Buenos Aires. 15. Dezember 1961. Ein israelisches Gericht verurteilt den ehemaligen SS-Obersturmbannführer Adolf Eichmann zum Tode. Am 31. Mai 1962 wird er gehängt. Eichmanns Verbrechen während des Dritten Reiches - er hatte die Deportation Hunderttausender Juden in die Vernichtungslager organisiert - stehen außer Frage. Doch vieles aus seinem Leben nach Kriegsende liegt bis heute im Dunkeln. Und nun wecken neue Aktenfunde erhebliche Zweifel an der bisherigen Darstellung, wie israelische Agenten ihn aufspürten, verhafteten und nach Israel brachten.
Drei Mossad-Agenten, unter ihnen der damalige Geheimdienst-Chef Isser Harel, hatten in ihren Memoiren detailliert beschrieben, wie sie den Kriegsverbrecher aus Argentinien entführt haben wollen. Dies ist ihre Version, die von der israelischen Regierung bisher nie dementiert wurde: Nach jahrelanger Suche spürten die Mossad-Fahnder Eichmann in Argentinien auf, stellten ihn am Abend des 11. Mai 1960 auf seinem Nachhauseweg und zerrten ihn in ein Auto. In einer konspirativen Wohnung in Buenos Aires hielten sie ihn neun Tage lange gefangen. In der Nacht des 20. Mai betäubten sie Eichmann, zogen ihm die Uniform eines Stewards der israelischen Fluggesellschaft El-Al über, schleusten ihn am Internationalen Flughafen in Ezeiza an der unaufmerksamen argentinischen Passkontrolle vorbei und setzten ihn in die El-Al-Maschine "Bristol Britannia", die am Morgen eine Regierungsdelegation nach Buenos Aires eingeflogen hatte. Das Flugzeug startete mit Eichmann um kurz nach Mitternacht und erreichte nach einer Zwischenlandung in Dakar am 22. Mai Israel.
So weit die Version des Mossad. Doch sie kann nicht stimmen. Dokumente aus US-Archiven, die erst seit Kurzem dank des Freedom of Information Act zugänglich sind, geben andere Informationen preis. Auch Akten aus argentinischen Archiven in Buenos Aires und Montevideo in Uruguay widerlegen die bisherige Geschichte von Eichmanns Enttarnung und Verhaftung.
Adolf Eichmann ist 1957 von einem Überlebenden des Konzentrationslagers Dachau, Lothar Hermann, entdeckt worden, einem alten, blinden Mann. Er teilte dies dem hessischen Generalstaatsanwalt Fritz Bauer mit, der daraufhin versuchte, die israelische Regierung zu überzeugen, den Kriegsverbrecher vor ein israelisches Gericht zu bringen. Vergeblich. Im März 1960 schrieb Hermann: "Es scheint, dass Sie kein Interesse haben, Eichmann zu verhaften."
In der Nacht des 20. Mai 1960 wurde nach argentinischen Unterlagen kein Mann in El-Al-Uniform am Airport in Ezeiza an den Kontrollbehörden vorbeigeschleust. Das El-Al-Flugzeug startete zwar tatsächlich in Ezeiza, aber ohne Eichmann an Bord. Die "Bristol Britannia" hat zudem nach Angaben des Herstellers Bristol Aeroplane Company eine Reichweite von 6869 Kilometern. Die Distanz zwischen Buenos Aires und Dakar beträgt aber 6952 Kilometer. Deshalb musste das Flugzeug schon vorher aufgetankt werden. Erst bei dieser Zwischenlandung wurde Eichmann in die Maschine gesetzt - und zwar auf dem Flughafen Laguna del Sauce im uruguayischen Badeort Punta del Este.
Aber wie war Eichmann nach Uruguay gekommen? Freiwillig oder gewaltsam? Wurde er dort verhört, gefoltert? Oder wurde mit ihm, dem ranghöchsten Nationalsozialisten im Exil, verhandelt? Was hat er preisgegeben? Es ist bekannt, dass Eichmann vor Gericht in Israel keine belastenden Aussagen gegen Hintermänner gemacht hat. Aber es ist auch bekannt, dass Eichmann in Argentinien begonnen hatte, über die Vergangenheit auszupacken. Was also waren die Motive seiner Gefangennahme?
Nach Kriegsende 1945 hatte sich Eichmann fünf Jahre lang in Deutschland versteckt. Obwohl er der Protokollführer der "Wannseekonferenz" gewesen war, auf der die "Endlösung der Judenfrage" beschlossen wurde, klagten ihn die Alliierten in Nürnberg nicht an. Laut Dokumenten des amerikanischen Geheimdienstes CIA hat er in dieser Zeit versteckte Goldbestände gesichert und die Flucht von Kriegsverbrechern finanziert