Zitat von
Parabellum
Nein, nur die halbe Wahrheit.
"Auf die offene Weigerung folgte oft sofortiges Handeln. Wenn sie angewiesen wurden, ihr Vieh den Kolchosen zu übergeben, denen sie nicht trauten, begannen Bauern, Kühe, Schweine, Schafe und sogar Pferde zu schlachten. Sie aßen das Fleisch, salzten es ein, verkauften oder versteckten es alles, damit die Kolchosen es nicht bekamen. Überall in der Sowjetunion, in allen ländlichen Distrikten, arbeiteten die Schlachthäuser plötzlich im Akkord."
"Roter Hunger", Anne Applebaum, S. 184
Das Fleisch stand also durch Verkäufe der gesamten sowjetischen Bevölkerung zur Verfügung.
Diese instinktivste und unmittelbarste Form des Widerstands ging bis in folgende Jahr und noch länger weiter. Zwischen 1928 und 1933 ging die Zahl von Kühen und Pferden in der Sowjetunion um fast die Hälfte zurück, die Zahl der Schweine sank von 26 auf 12 Millionen, die der Schafe und Ziegen von 146 auf 50 Millionen. Wer sein Vieh nicht schlachtete, verteidigte es mit Klauen und Zähnen. In einem Dorf beobachtete die OGPU, wie die Menge einen Komsomolzen verprügeln wollte, der ein Pferd wegführte. In einem anderen Dorf stürmte eine Gruppe von 20 Frauen mit Knüppeln bewaffnet eine Kolchose, um ihre Pferde zurückzuholen. Anderswo brannten Bauern eine Scheune voller Pferde nieder, die sie lieber tot als enteignet sehen wollten. Bauern sagten, es sei » besser, alles zu zerstören«, als es den Behörden zu überlassen.
In einigen wenigen Fällen ließen Bauern ihr Vieh einfach frei, statt es zu übergeben. Im nordkaukasischen Dorf Jekatarinowka ließ ein Bauer seine Fuchsstute mit dem Schild »nehme mich, wer will« durch die Straßen laufen. Ein Bericht über diesen Vorfall beschrieb die Rolle der Stute als die eines »kulakischen Agitators«; sie »wanderte zwei Tage lang durchs Dorf und rief Neugier, Gelächter und Panik hervor.«
Das Schlachten der Tiere und der Widerstand gegen ihre Beschlagnahme waren rein persönliche Reaktionen: Die Bauern befürchteten den Verlust ihres Wohlstands, ihrer Lebensgrundlage, ihrer ganzen Zukunft. Doch die Behörden sahen die Schlachtungen als rein politische Handlung, als bewusste »Sabotage«, motiviert von konterrevolutionärem Denken - und sie bestraften die Saboteure dementsprechend. So wurde einem Mann, der seine Kuh nicht bei der Kolchose abgeben wollte und sie stattdessen schlachtete, der Kopf des Tieres an seinem Hals gehängt, damit musste er dann durchs Dorf laufen. Die örtlichen Brigadeleiter wollten »dem ganzen Dorf zeigen, was passieren kann, was jeder später erwarten kann«, Üblicherweise wurden jene, die ihr Vieh schlachteten, sofort als »Kulaken« eingestuft, falls das nicht schon geschehen war, mit allen Folgen: Enteignung, Festnahme, Deportation.
Es überrascht nicht, dass die Forderung nach Saatgut ähnliche Reaktionen hervorrief. Die Erinnerung an die Getreideeintreibungen, Engpässe und Hungersnöte des vorigen Jahrzehnts war immer noch frisch.
"Roter Hunger", Anne Applebaum, S. 185 ff.