Stuttgart - Sümeyye kommt aus einer türkischen Familie. Anna ist Deutsche. Beide sind in Stuttgart aufgewachsen - in ganz unterschiedlichen Kulturen. Bei einem gemeinsamen Besuch der Koranschule in Wangen versucht Sümeyye Anna eine für sie fremde Welt in ihrer eigenen Stadt näherzubringen.
Sümeyye Zengin (15):
Wir steigen die mir so vertrauten Treppen der Koranschule in Wangen hoch. Alles ist heute anders. Heute ist sie dabei. Meine Gedanken kreisen nur noch darum, wie Anna auf all das reagieren wird. Wird sie sich fehl am Platz fühlen? Nein, sie hat ein knielanges Kleid mit einer sommerlichen Hose darunter an - so wie viele Mädchen hier.
Außerdem habe ich ihr eben an der U-Bahn-Haltestelle eines meiner Kopftücher umgebunden. Denn ohne Kopftuch darf man nicht im Koran lesen oder beten. Das grüne Tuch steht ihr sogar richtig gut. Vielleicht wird sie ein falsches oder komisches Bild von den Schülern in der Koranschule bekommen? Aber so eine ist sie nicht. Ich kenne sie zwar erst seit zwei Tagen, aber sie wirkt aufgeschlossen und an anderen Kulturen interessiert.
Damit die Gebetsteppiche nicht schmutzig werden, ziehen wir unsere Schuhe am Eingang aus und stellen sie in eines der großen Regale zu den vielen anderen Schuhen. Es ist Samstag, 10 Uhr. Wie jedes Wochenende lernen über 100 türkische Schüler in verschiedenen Klassen, wie man den Koran auf Arabisch, der Originalsprache, liest und was die Texte bedeuten. Jungs und Mädchen werden dabei getrennt unterrichtet.
In meiner Gruppe hängen bunte Blätter mit den 99 Namen Allahs in arabischer und türkischer Sprache an den sonst weißen Wänden. Als wir eintreten, lesen die Mädchen bereits Verse aus dem Koran laut vor. Das Arabisch klingt für mich härter als Deutsch. Ich verstehe es nicht und doch kommt es mir seltsam vertraut vor. Wenn jemand einen Fehler beim Aussprechen der ziemlich komplizierten Sprache macht, verbessert uns die Lehrerin geduldig.
Dann ist Mittagspause. Die kleinen Kinder rennen durch die Räume, lachen und spielen Spiele wie "Wer hat Angst vorm schwarzen Mann". Die größeren Mädchen essen und quatschen miteinander. Anna hat Zeit, ihnen Fragen zu stellen. Ich habe das Gefühl, dass es ihr bisher gefällt, und bin erleichtert.
Die Stimme der Klassensprecherin macht dem Trubel um halb zwei ein Ende. Sie ruft alle zum gemeinsamen Mittagsgebet Ôglen Namazi zusammen. Bunte Teppiche werden in mehreren Reihen auf dem Boden ausgebreitet, wir beginnen zu beten. Anna sitzt auf einem Sofa in der Ecke und schaut interessiert und mit einem Lächeln im Gesicht zu. Als wir später das Gebäude wieder gemeinsam verlassen, möchte sie das Kopftuch sogar noch anbehalten, bis sie wieder zu Hause ist.
Anna Magdalena Claus (16):
Was ziehe ich nur an? Nachdem ich mehrere Kleider aus meinem Schrank an- und wieder ausgezogen habe, entscheide ich mich für ein dunkles Outfit. Schwarze Hose, darüber ein leichtes Sommerkleid und darunter ein langärmeliges Oberteil, um meine Schultern zu bedecken. Für einen warmen Tag fühle ich mich nicht richtig gekleidet, aber abgesehen von meinen blonden Haaren sieht mein Spiegelbild schon recht muslimisch aus.
Sümeyye vervollständigt meine Verwandlung, indem sie mir ein grünes Kopftuch umbindet. Dann laufen wir von der U-Bahn-Haltestelle in Wangen zur Koranschule. Das Gebäude sieht eher aus wie eine Fabrik und schmiegt sich unscheinbar in die umliegenden Häuser. Wir betreten den Mädcheneingang. Jetzt beginnt für mich eine völlig neue Erfahrung. Ich stelle mir vor, wie viele Mädchen und Frauen mit Kopftuch und eingehüllt in lange Gewänder mit nackten Füßen auf bunten Gebetsteppichen knien und Suren aus dem heiligen Koran murmeln. Woher diese Bilder kommen? Ich weiß es nicht. Ob sie der Realität entsprechen? Ich werde es bald wissen.
Zusammen mit Sümeyye betrete ich einen großen, länglichen Raum mit blassblauem Teppichboden. Es herrscht keine andächtige Stille - Gelächter und Gespräche füllen den Raum. Dazwischen hört man die laute Stimme der Lehrerin. Einige Blicke richten sich auf uns, als wir den Raum betreten. Wir setzen uns an einen der Schultische, die im Viereck zueinander im Raum stehen. Man kann alle 16 Klassenkameradinnen von vorn sehen. Offene Gesichter, die mich anlächeln, wenn sich unsere Blicke treffen.
Die Lehrerin ist eine hübsche, kräftige junge Frau. Sie trägt ein rot-weiß-schwarzes Kopftuch und ein langes, schwarzes Gewand. "Du musst kein Kopftuch tragen, wenn du nicht willst", sagt sie in flüssigem Deutsch zu mir. Ich möchte aber. Mit liebevoller Strenge geht sie mit den geschwätzigen Mädchen um. Man hat das Gefühl, dass es ihr sehr wichtig ist, den jungen Musliminnen beizubringen, wie sie die arabischen Schriftzeichen richtig aussprechen.
Nacheinander lässt sie die Schülerinnen aus dem Koran lesen. Bei manchen klingt die fremde Sprache stockend und mühsam. Als aber eine anscheinend besonders fleißige Schülerin zu lesen beginnt, klingt es fast wie ein Lied. Lange Vokale (Ü, Ä, Ö) und viele nasale Laute (N, M), von links nach rechts gelesen, fließen zu einer stetigen Melodie zusammen. Wie viele komplizierte Schritte, die sich zu einem exotischen, fließenden Tanz verbinden.
In der Mittagspause sitzen wir in kleinen Gruppen zusammen und essen. Als Simla den Koran aufklappt, schimpft Tugce: "Du Dumme!" Simla erklärt mir schuldbewusst, dass sie gerade ihre Tage hat. "Da dürfen Frauen den Koran nicht berühren." Dann greift sie nach einem Stift, um die Seiten umzublättern.
Nach der Pause darf ich in der Klasse meine Fragen stellen. Alle Mädchen erzählen mir, dass sie sich in Stuttgart wohlfühlen - meistens wenigstens. "Die großen Probleme zwischen Türken und Deutschen, über die so viel geredet wird, gibt es so überhaupt nicht", findet Tugce. Manchmal bekommen die Mädchen dennoch feindliche Bemerkungen zu hören. "Neulich wurde ich erst wieder von einem Griechen oder so beschimpft, der meinte mein Rock über der Hose würde dämlich aussehen", erzählt Büsra.
Dann ist es Zeit für das Mittagsgebet, eines von fünf Gebeten, die ein gläubiger Muslim am Tag beten sollte. Alle nehmen ihren Gebetsteppich. Einige sind bunt bestickt mit Kuppeln in der untergehenden Sonne und verschnörkelten Mustern, andere ganz schlicht. Nur Simla nimmt keinen Teppich. Da sie ihre Tage hat, darf sie nicht beten. "Diese Regel wurde von Gott gegeben, um die Frauen eine Woche im Monat von der Pflicht des Betens zu befreien", erklärt sie mir. Sümeyye, Tugce, Büsra und die anderen wenden sich in Richtung Mekka. Manche Mädchen kichern und lächeln dabei, andere sind sehr konzentriert, als sie in die Knie gehen und den Kopf dicht an den Boden führen. Das sieht ein bisschen nach Yoga aus, denke ich und muss schmunzeln.
Als wir die Koranschule verlassen, fragt Sümeyye nach ihrem Kopftuch. Ich möchte es trotz der Hitze noch (er-)tragen, bis ich wieder zu Hause bin.
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Beim Festival der Kulturen treffen einmal im Jahr Menschen aus fast allen Ländern dieser Welt auf dem Stuttgarter Marktplatz zusammen, kochen landestypische Gerichte und zeigen ihre Kultur in Tanz und Musik. Nach dieser Woche leben sie wieder oft unerkannt und nicht immer so gut integriert wie beim Festival mitten unter uns in Stuttgart. Schade eigentlich, finden Jule Kriesel (17) und Sanja Förster (21).
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Sieht diese Welt außerhalb des Festivals also nicht so harmonisch und integriert aus?
Viele Befragte zögern bei der Antwort. Jean-Pierre aus dem Kongo sagt auf Französisch, dass er es bedauert, wie langsam die Integration fortschreitet. Sich einmal im Jahr für andere Kulturen zu interessieren reicht nicht aus, um immer ein glückliches Miteinander ohne Krieg und Konflikte zu schaffen. Manchmal würde es schon reichen, den angestammten Biergarten am Wochenende gegen ein afrikanisches Restaurant zu tauschen. Denn die Vielfalt der Kulturen in Stuttgart gibt es das ganze Jahr über. Und Hai-Lyn findet: „Multi-kulti ist immer gut!“