Don't mention the war crimes
Warum plötzlich Churchills Rolle im Krieg diskutiert wird
Oscar Nemon wußte, daß er Geschichte in Stein meißelte, als er in den frühen fünfziger Jahren Winston Churchill porträtierte. Deshalb hob er auf, was ihm der Premierminister übrigließ: die Fotos, die bei den Modellsitzungen im Atelier des Bildhauers entstanden waren, den dabei getragenen Anzug, den der grundgütige Politiker dem Künstler zum Dank verehrte, und eine halb gerauchte Zigarre, mit der Churchill sich die Zeit vertrieben hatte. Das alles kommt in zwei Wochen bei Sotheby's in London zum Verkauf. Man darf gespannt sein, was den Briten Churchills Aschereste wert sind.
In Deutschland gab es nach dem Krieg genug davon. Hundertsechzig Städte, so lautet die erstaunlicherweise bislang nie besonders herausgestellte Zahl, sind in den Jahren von 1940 bis 1945, Churchills ersten Jahren als Premierminister, Opfer englischer und später auch amerikanischer Bombenangriffe geworden. Jörg Friedrich hat in seinem jüngst erschienenen Buch "Brand - Deutschland im Bombenkrieg" daran erinnert und Churchill als Regierungschef für die immense Zahl ziviler Opfer mitverantwortlich gemacht. Das ist ihm in Großbritannien verübelt worden (F.A.Z. vom 22. November). Kein Wunder: Ist doch erst vorgestern Churchill von seinen Landsleuten in einer BBC-Umfrage zum bedeutendsten Briten aller Zeiten gewählt worden. Die Traditionsverbände hatten allerdings noch einmal trommeln müssen, um dem großen Triumphator eine späte Schlappe zu ersparen. Wenige Tage vor Abschluß der Internet-Abstimmung hatten der viktorianische Brückeningenieur Isambard Kingdom Brunel und Prinzessin Diana noch vor ihm gelegen. Doch das durfte natürlich nicht sein: Am Ende hätte man glauben können, die vom deutschen Historiker ausgelöste Debatte hätte Churchill auf hintere Plätze verdrängt. Die "Times" beschuldigte prompt die Jugend, historische Leistungen nicht richtig einzuschätzen.
Die englische Verehrung für den Kriegspremier gleicht einem Heiligenkult. Daß jeder Versuch der Profanierung deshalb harsche Reaktionen hervorruft, ist verständlich. Dabei ist es nicht das erste Mal, daß in Deutschland gegen Churchill solche Vorwürfe erhoben werden, und sie sind auch nicht das Privileg von Reaktionären gewesen, wie es nun bisweilen heißt. Schon kurz nach dem Krieg, 1955, wurde Churchill der Aachener Karlspreis zugesprochen. Adenauer lobte den Preisträger in seiner Laudatio als "Sieger des großen Krieges", der "in so kluger und weit in die Zukunft blickender Weise das zerschlagene und aus tausend Wunden blutende Europa aufruft, sich zusammenzuschließen zu einer Einheit". Doch zuvor hatten einige Mitglieder der aus Aachener Honoratioren bestehenden Karlspreis-Gesellschaft aus Protest gegen die Wahl den Verein verlassen. Ihre Stadt war durch alliierte Bomben zu mehr als sechzig Prozent zerstört worden.
Churchill hatte es sich in seiner Dankesrede leichtgemacht: "Es ist nicht notwendig, heute noch einmal die sechs Jahre von 1939 bis 1945 zu beklagen; Sie in dieser Stadt kennen sie nur zu gut." Ein rhetorischer Trick, denn die Bombenangriffe der Kriegsjahre waren in Deutschland weitgehend tabu - das gebot bereits die Bündnistreue (der Nato-Eintritt der Bundesrepublik erfolgte ebenfalls 1955). Warum wird diese Frage nun aber wieder aktuell?
Die internationalen Regeln der Kriegführung, die vor allem den Schutz von Nichtkombattanten festschreibt, sind auch noch und gerade nach dem Zweiten Weltkrieg regelmäßig mißachtet worden. Das ändert nichts an ihrer Verbindlichkeit. Aber auch nichts daran, daß sie seit ihrer Verabschiedung als Haager Landkriegsordnung 1907 vor allem als wohlfeiles Propagandamittel dienen: Die Barbarisierung des Gegners ist spätestens seit dem Ersten Weltkrieg, als die Deutschen wie Hunnen in Belgien und die Russen wie Tiere in Ostpreußen gehaust haben sollen, ein probates Mittel, um eigene Härte zu rechtfertigen und den Gegner ins Unrecht zu setzen. Damals wartete man dessen Heerzüge aber immerhin noch ab. Heute dagegen wird die Grausamkeit ex ante festgestellt, wenn von kriegerischen Handlungen noch gar keine Rede sein kann. Der Krieg ist derzeit mehr denn je Fortsetzung einer Politik, deren Mittel gar nicht mehr so sehr anders sind.
Und diese Politik ist auch kein Privileg von Staaten mehr. Vielmehr bewerten gerade Kriegsgegner Militäreinsätze vermehrt nicht nach deren Ursachen, sondern ihrer Durchführung: Eine Betrachtung auf der Grundlage der Landkriegsordnung macht jedes Flächenbombardement, das auch zivile Ziele umfaßt, nicht nur unmoralisch, sondern rechtlich unstatthaft. Diese willkommene Sicht prägte denn auch die meisten deutschen Reaktionen auf amerikanische Feldzüge im letzten Jahrzehnt, und es ist nur konsequent, daß das, was man gegen den eigenen Alliierten der Gegenwart vorbringt, nun auch dem einstigen Feind entgegengehalten wird. Hier sind einmal die gesellschaftlichen Lager einig.
Denn es vereint sich das lange als notwendig erachtete Schweigen über den Schrecken und die Schuldfrage des Bombenkriegs mit einem neuen, aus der Skepsis gegenüber Amerika erwachsenden Selbstbewußtsein in Deutschland. Daß Präsident Bush zu den größten Bewunderern Churchills zählt (F.A.Z. vom 3. September), paßt da perfekt ins Bild. Daß es zudem Walt Disneys Zeichentrickfilm "Victory Through Air Power" gewesen sein soll, mit dem der britische Premier den zaudernden Roosevelt 1943 auf der Konferenz von Québec für seine Bomberstrategie gewann, läßt Churchills Bild und Amerikas Klischee zu einer dämonischen Fratze verschmelzen. Die deutschen Nachkriegsgenerationen betrachten Churchill moralisch statt strategisch, während die Ehrfurcht vor seinen politischen und militärischen Leistungen diese Fragen in Großbritannien als unangebracht erscheinen läßt. Das ist Gegenstand des Streites.
ANDREAS PLATTHAUS
Quelle: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.11.2002, Nr. 275 / Seite 33