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Reinhard Marx!

Schöne Idee von Ihnen, in diesen Finanzkrisenzeiten ein Buch unter dem unfaßbar provokanten Titel »Das Kapital« zu schreiben und darin doch wieder nur den üblichen, auch von Ihnen als Münchener Erzbischof bis zum Erbrechen bekannten Kirchenmoralinquark breitzutreten. Glücklicherweise hat Ihr etwas bekannterer Namensvetter auf diese kleine Unverschämtheit bereits 1847 geantwortet: »Die sozialen Prinzipien des Christentums haben die antike Sklaverei gerechtfertigt, die mittelalterliche Leibeigenschaft verherrlicht und verstehen sich ebenfalls im Notfall dazu, die Unterdrückung des Proletariats, wenn auch mit etwas jämmerlicher Miene, zu verteidigen.« Oder eben Hartz IV und was der Standort sonst noch so braucht.
Amen:

Titanic
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Wer vielleicht trotzdem mal reinlesen möchte:

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Es ist ein 12seitiger Text, deswegen zitiere ich ein bisschen. Er sagt sicher nichts neues, aber es ist doch ganz nett zu lesen und ich dachte, dass die Kombination von katholischer Zustimmung und Kritik an Karl Marx hier einige interessieren dürfte und zu lustigen Diskussionen führen könnte.

Sehr geehrter Karl Marx, lieber Namensvetter,

(...)

Sie waren noch nicht einmal geboren, da haben bereits sozial engagierte Christen wie Franz von Baader (1765–1824) und Adam Heinrich Müller (1779 –1829) den im 18. Jahrhundert aufkommenden Kapitalismus scharf kritisiert und auf die Not der in den neuartigen Fabriken schuftenden Arbeiter aufmerksam gemacht.
1848 haben Sie mit Friedrich Engels das Manifest der Kommunistischen Partei veröffentlicht. Sie schreiben dort, man könne das kommunistische Programm „in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen“ (MEW 4, 475). Im selben Jahr hat der katholische Priester und Abgeordnete des Paulskirchenparlaments Wilhelm Emmanuel von Ketteler in seinen berühmten Adventspredigten im Mainzer Dom ebenfalls die damals herrschende Eigentumsauffassung angegriffen, den Egoismus vieler Besitzender und deren Kaltherzigkeit gegenüber der Not der Armen, insbesondere der Arbeiterschaft gegeißelt. Aber anders als Sie wollte Ketteler das Eigentum nicht abschaffen, sondern er betonte schon damals das, was hundert Jahre später in das deutsche Grundgesetz geschrieben wurde: Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.
Als Sie 1869 das Rheinland bereisten, haben Sie Friedrich Engels einen Brief geschrieben, in dem Sie sich bitter über das Wirken meines Mitbruders im Bischofsamt beklagt haben: „Bei dieser Tour durch Belgien, Aufenthalt in Aachen und Fahrt den Rhein herauf, habe ich mich überzeugt, dass energisch, speziell in den katholischen Gegenden, gegen die Pfaffen losgegangen werden muss. Ich werde in diesem Sinne durch die Internationale wirken. Die Hunde kokettieren (z. B. Bischof Ketteler in Mainz, die Pfaffen auf dem Düsseldorfer Kongress usw.), wo es passend scheint, mit der Arbeiterfrage“ (MEW 32, 371).

Natürlich konnte es Ihnen nicht gefallen, dass sich ein Kirchenmann, sogar ein Bischof, auf die Seite der Arbeiterschaft stellte. Das passte doch gar nicht zu Ihrer schönen Theorie, nach der die Religion „allgemeiner Trost und Rechtfertigungsgrund“ der bürgerlichkapitalistischen Welt, „das Opium des Volks“ ist und nach der die Kirche die „Heiligengestalt der menschlichen Selbstentfremdung“ ist (MEW 1, 378 f.). In Ihrer Vorstellung von der damaligen Gesellschaft hätte Ketteler eigentlich die Rolle eines gutmütigen, tumben Büttels der herrschenden Klasse einnehmen müssen, der die Hoffnungslosen auf das Jenseits vertröstet und damit das bürgerlichkapitalistische System stabilisiert. Das hat Ketteler aber nicht getan
Außerdem wissen Sie sehr gut, dass nach Ihrer Geschichtsphilosophie in Russland gar keine Revolution hätte stattfinden dürfen. Der Kapitalismus ist ja nach Ihrer Auffassung ein notwendiges Stadium der Geschichte, durch das die Industriegesellschaft gehen muss, bevor die Akkumulation des Kapitals und die Entfremdung der Arbeiterschaft in dem Punkt kulminieren, an dem die Entwicklung in die kommunistische Revolution umschlägt. Das Zarenreich aber war weder industrialisiert noch bürgerlichkapitalistisch, sondern ein feudalistisch strukturierter Agrarstaat, als die Bolschewisten unter Berufung auf Sie und Ihre Ideen einen kommunistischen Staat errichteten. Insofern war die russische Revolution eher ein Argument gegen als für Ihre Theorien.
Und dort, wo nach Ihrer Prognose die Revolution hätte zuerst stattfinden sollen – in England –, wartet man noch heute vergeblich auf die Erstürmung Westminsters durch das Proletariat.
Ich schreibe Ihnen ganz im Gegenteil, weil mir in letzter Zeit die Frage keine Ruhe lässt, ob es am Ende des 20. Jahrhunderts, als der „kapitalistische Westen“ im Kampf der Systeme den Sieg über den „kommunistischen Osten“ errungen hatte, nicht doch zu früh war, endgültig den Stab über Sie und Ihre ökonomischen Theorien zu brechen. Es sah zwar in der Tat in der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts ganz so aus, als ob Sie sich geirrt hätten. Die durch das Tarifsystem, die Arbeitnehmermitbestimmung und das ganze Sozial und Arbeitsrecht zu einer Erwerbsbürgergesellschaft gewandelte kapitalistische Industriegesellschaft hatte die Arbeiter von ausgebeuteten Opfern des marktwirtschaftlichen Systems zu Teilhabern an dessen Erfolgen gemacht. Wohlstand für alle schien möglich.
Inzwischen werden wir aber darüber belehrt, dass diese integrierte Erwerbsbürgergesellschaft des 20. Jahrhunderts der historische Ausnahmefall gewesen sei, von dem wir Abschied nehmen müssten. Und das sagen uns nicht etwa die Ihnen und Ihren Theorien verbliebenen Anhänger, sondern das sagen uns manche Wirtschaftsexperten und Politiker. Deren Botschaft lautet: Die heimeligen Zeiten des nationalen Wohlfahrtsstaates sind angesichts der wirtschaftlichen Globalisierung zu Ende und kommen auch niemals wieder. Auf dem neuen, weltweiten Markt gehe das Kapital in die Länder, in denen es sich am freiesten entfalten könne und in denen es der Staat zur Finanzierung seiner Aufgaben am wenigsten belaste und in Anspruch nehme.
...
Im Zuge dieses Standortwettbewerbs ist weltweit zu beobachten, dass die Steuern auf Unternehmenserträge und Privateinkünfte gesenkt werden, während die von allen Bürgern zu zahlenden Verbrauchssteuern und die kommunalen Abgaben steigen. Dass diese Entwicklung vor allem zu Lasten der Ärmeren geht, ist wohl unbestreitbar.
Unattraktiv für die internationale Investorengemeinschaft soll vor allem vieles von dem sein, was den Arbeitnehmern in den hochentwickelten Ländern in den letzten Jahrzehnten lieb und teuer geworden ist: Tariflöhne, ein hoher arbeitsrechtlicher Schutzstandard, Mitbestimmung und ein starker Sozialstaat. Die Devise ist deshalb: Sozialabbau und Deregulierung. Die Gewerkschaften laufen Sturm gegen diese Entwicklung, scheinen aber zunehmend machtlos. Sie können sich in der globalisierten Wirtschaft nämlich nicht mehr darauf beschränken, in nationalen Arbeitskämpfen die Arbeitnehmerinteressen gegenüber den Kapitalinteressen zur Geltung zu bringen, sondern sie müssen auch versuchen, das Kapital zu hindern, das zu tun, was Arbeitnehmer in der Regel nicht so leicht können: das Land zu verlassen.
Die „Modernisierer“, die die alten Wohlstandsgesellschaften, die hochentwickelten Länder der westlichen Hemisphäre, auf „Globalisierungskurs“ bringen wollen, klingen eigentlich überall gleich: Wenn wir uns nicht grundlegend änderten, würden wir die Herausforderungen der neuen Zeit nicht bestehen. Es sei zum Überleben unserer Gemeinwesen zwingend notwendig, endlich einige schmerzliche Wahrheiten zur Kenntnis zu nehmen.
Ich habe überrascht festgestellt, dass Sie, Herr Marx, bereits vor 150 Jahren vorhergesagt haben, uns stehe „die Verschlingung aller Völker in das Netz des Weltmarkts und da mit der internationale Charakter des kapitalistischen Regimes“ bevor (MEW 23, 790).
Und man könnte meinen, man lese eine Kritik an der Politik unserer heutigen internationalen Handels und Finanzorganisationen, wenn es weiter heißt: „Die Bourgeoisie reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterte Kommunikation alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation. […] Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d. h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde“ (MEW 4, 466).
Aber Sie scheinen nicht nur mit Ihrer Theorie von der fortschreitenden Akkumulation und Konzentration des Kapitals Recht gehabt zu haben, sondern auch mit Ihrer These von der Zentralisation des Kapitals, also der „Expropriation von Kapitalist durch Kapitalist, Verwandlung vieler kleineren in weniger größere Kapitale. […] Das Kapital schwillt hier in einer Hand zu großen Massen, weil es dort in vielen Händen verlorengeht“ (MEW 23, 654). Im globalen Wettbewerb können sich kleinere und mittlere Betriebe tatsächlich immer schwerer gegen die Konkurrenz der Großen, insbesondere der „Global Player“ behaupten.
Was für die Tendenz bei den Betrieben und Unternehmen gilt, ist auch bei dem Einkommen der Einzelnen zu beobachten: Die Schere geht auseinander – vor allem in den USA, dem kapitalistischen „Musterland“, das in Europa als Vorbild angepriesen wird. Dort ist es tatsächlich zu beobachten: Die Reichen werden immer reicher, die Armen werden immer ärmer, und die ehemals breite, sozial abgesicherte Mittelschicht gerät unter Druck. Von 1973 bis 1994, so rechnet der amerikanische Ökonom Lester C. Thurow vor, ist das reale Bruttoinlandsprodukt der USA um 33 Prozent pro Einwohner gestiegen. Der durchschnittliche Wochenlohn für Arbeiter und Angestellte in nicht leitender Funktion fi el im gleichen Zeitraum jedoch um 19 Prozent.
Im gleichen Zeitraum hat sich das Einkommen der Spitzenverdiener jedoch vervielfacht. Verdiente ein amerikanischer Manager Anfang der siebziger Jahre im Durchschnitt ungefähr das Fünfundzwanzigfache von einem Industriearbeiter, so war es knapp 30 Jahre später bereits das Fünfhundertfache.
Laut dem US-Wirtschaftsmagazin Forbes gibt es im Jahr 2008 weltweit 1125 Milliardäre. Sie besitzen zusammen rund 4400 Milliarden Dollar (2760 Milliarden Euro). Zum Vergleich: Das Bruttoinlandsprodukt Deutschlands beträgt rund 2400 Milliarden Euro. Die Zahl dieser „Superreichen“ steigt von Jahr zu Jahr.
Sie, Herr Marx, haben davon gesprochen, dass die bürgerlichkapitalistische Gesellschaft eine bloß formelle Freiheit garantiert, die reelle Freiheit der Menschen aber sträflich missachtet.
Manager verdienen Millionen und kritisieren gleichzeitig das „Besitzstandsdenken“ der Arbeitnehmer. Und die internationale Finanzmarktkrise zeigt, wie stark schon heute anonymes Kapital unser Schicksal bestimmt. Banken und Fonds verspekulieren Milliarden, die Zeche zahlen andere: Nachdem man sich jahrelang jede Einmischung des Staates in den Markt verbeten hat, muss der Steuerzahler nun für die Spekulationsverluste der Banken einstehen.
Wird der Lauf der Geschichte Ihnen am Ende also doch Recht geben, Herr Dr. Marx? Wird der Kapitalismus letztlich doch an sich selbst zugrunde gehen? Ich sage es Ihnen ganz offen: Ich hoffe das nicht. Das hat mehrere Gründe. Zum einen sehe ich nicht, wie außerhalb eines marktwirtschaftlichen Systems die große Zahl der heute weltweit lebenden Menschen mit den notwendigen Gütern und Dienstleistungen versorgt werden könnte.
Mir ist bewusst, dass nicht Sie, sondern Ihre bolschewistischen „Jünger“ dieses Wirtschaftssystem erdacht und ins Werk gesetzt haben. Aber wo auch immer im Lauf der Geschichte Menschen versucht haben, Ihr Programm der Vergesellschaftung der Produktionsmittel zu verwirklichen, lief es letztlich auf eine Verstaatlichung hinaus. Das sollte Ihnen zu denken geben. Und diese ungeheure Konzentration wirtschaftlicher Macht in den Händen einer kleinen herrschenden Clique führte regelmäßig auch in die politische Diktatur, bisweilen in die totalitäre Diktatur.