Flucht vor dem Frust
Von Lenz Jacobsen und Peter Wensierski
Die türkische Mittelschicht gründet eigene Privatschulen, weil sie sich im öffentlichen System benachteiligt fühlt - und stößt damit auf Widerstand.
Die Zusammensetzung von Christians Klasse ist der Alptraum deutscher Eltern und Schulpolitiker. Fast alle Mitschüler des 13-Jährigen sind türkischer Herkunft.
Christian ist der einzige Deutsche, und doch beklagt er sich nicht über die Verhältnisse an seiner Schule im Berliner Stadtteil Spandau.
"Hier werden die Kinder mit Respekt behandelt", sagt seine Mutter, "es gibt keine Gewalt, hier wollen alle nur lernen."
Christian besucht ein
türkisches Privatgymnasium, dessen Ruf exzellent ist.
Aus ganz Berlin kommen Kinder zumeist wohlhabender Migranten und einiger weniger Deutscher hierher, in den Westen der Stadt.
Viele Kinder hier
möchten Arzt werden, Lehrer, Ingenieur, Hotelier oder Geschäftsmann. Alle wollen in Deutschland bleiben, sie hoffen auf eine große Karriere.
"Wir wissen schon seit den achtziger Jahren, dass die Migranten benachteiligt sind", sagt Ingrid Gogolin, Professorin für Interkulturelle Erziehungswissenschaft in Hamburg.
Geändert habe sich jedoch wenig. Da sei es nur verständlich, dass die Türken sich jetzt eigene Wege suchten.
Dabei sind die Prioritäten klar:
Deutsch ist die Unterrichtssprache, Englisch erste Fremdsprache, Türkisch zweite. Von den 21 Lehrern sind nur vier türkischer Abstammung. Die Schule gilt als religionsneutrale Zone. Auf dem Stundenplan steht nicht Islamunterricht, sondern Ethik.
Hinter den Privatschulen steht eine Bevölkerungsschicht, die nur selten für Schlagzeilen sorgt:
die gut integrierte türkische Mittelschicht. Nach Angaben der Türkisch-Deutschen Industrie- und Handelskammer leben
in Deutschland 70.000 türkische Selbständige, die mit 400.000 Beschäftigten einen Umsatz von 34 Milliarden Euro machen. Hinzu kommen 21.400 Studierende mit türkischem Pass.
Migrationsexperten wie Armin Laschet, Integrationsminister in NRW, begrüßen diese Entwicklung. Die Schulen würden "gut in die Vielfalt unserer privaten Bildungslandschaft" passen, sagt der CDU-Politiker, "
sie setzen nicht auf Abschottung, sondern sind für jeden offen". Sie alle haben mit islamistischen Kaderschmieden nichts gemein, müssen aber trotzdem gegen Verdächtigungen kämpfen. Lokalpolitiker und deutsche Behörden tun sich mit ihnen schwer.
Experten sehen in den Schulen
tatsächlich ein wirksames Mittel gegen Desintegration und Verelendung. Denn sie sind keine Erfindung von Politikern, sondern die Folge von oft jahrelanger Eigeninitiative.
Sie entstanden aus Hausaufgabenhilfen für türkischstämmige Kinder, sie bieten Ganztagsunterricht mit Schulspeisung, moderne Ausstattung und intensive Sprachförderung. Wie in der Türkei ist Schuluniform meist Pflicht. Weiße Hemden, Blusen und Schlips signalisieren Aufstiegswillen.
Das
Schulgeld beläuft sich, je nach Angebot, auf 150 bis 330 Euro im Monat. Es
kann durch gute Noten bis auf null sinken. Dieser Anreiz ermöglicht es selbst Schülern aus ärmeren Verhältnissen, hier zu lernen, sofern sie sich um gute Leistungen bemühen.
Necattin Topel, Mitinitiator der Solinger Privatschulpläne, bestreitet dagegen jede Verbindung zum Gülen-Netzwerk.
Mit einer Geste will er die Offenheit der zukünftigen Schule bekräftigen. Den ersten fünf deutschen Kindern soll das Schulgeld, immerhin rund 2000 Euro im Jahr, komplett erlassen werden.
Das Kölner "Privatgymnasium Dialog" erhielt im April sogar eine "Europamedaille" als "Schule der Zukunft", die Europäische Volkspartei lobte sie als "beispielhaft für einen guten interkulturellen Dialog".
Gemeint sind jene Schulen, denen die türkische Mittelschicht ihre Kinder nicht mehr anvertrauen will - stattdessen werden lieber 5000 Euro im Jahr für einen Platz am deutsch-türkischen Internat Eringerfeld im ostwestfälischen Geseke gezahlt. Turan Devrim, der Vorsitzende des Trägervereins, preist seine Einrichtung, idyllisch neben einem altehrwürdigen Schloss gelegen, als diskriminierungsfreies Biotop.