Geschichte als Schlüssel zur Zukunft
Der Armeniermord und die Identität der Türkei
Taner Akçam: From empire to republic. Turkish nationalism and the Armenian genocide. Zed Books, London 2004. 288 S.
Taner Akçam: Armenien und der Völkermord. Die Istanbuler Prozesse und die türkische Nationalbewegung. Verlag Hamburger Edition, Hamburg 2004. 439 S., Fr. 28.60, € 16.–.
Wolfgang Gust (Hg.): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts. Verlag zu Klampen, Springe 2005. 675 S., Fr. 69.–, € 40.–.
Yusuf Halaçoglu: Ermeni tehciri ve gerçekler (1914–1918). Türk Tarih Kurumu, Ankara 2001. Im gleichen Verlag auf Englisch: Facts on the relocation of Armenians 1914–1918. 2002.
Yusuf Halaçoglu, Ramazan Çal1k, Kemal Çiçek, Hikmet Özdemir, Ömer Turan: Ermeniler. Sürgün ve göç. Türk Tarih Kurumu, Ankara 2004.
Hans-Lukas Kieser
Der Völkermord von 1915/16 an den Armeniern ist virulente Gegenwart. Mit dem Vorwurf, sie stiessen der türkischen Nation einen Dolch in den Rücken, liess der türkische Justizminister Cemil Çiçek am 24. Mai wutentbrannt eine Historikerkonferenz in Istanbul über die spätosmanisch-armenische Geschichte platzen. Unter den Eingeladenen war auch der «dissidente» Historiker Taner Akçam, nicht eingeladen hingegen war der Präsident des staatlichen Instituts für Geschichte, Yusuf Halaçoglu, der oberste Hüter türkischer Nationalgeschichte. Im Folgenden sollen je zwei Bücher dieser zwei Antagonisten sowie eine Veröffentlichung deutscher Quellen besprochen werden, die für das Thema zentral sind.
Ein Tabu aus der Gründungszeit
1976 wegen publizistischer Tätigkeit verurteilt, floh Akçam nach Deutschland, wo es ihm trotz vielen Schwierigkeiten, darunter Todesdrohungen von Seiten türkischer Nationalisten, gelang, einen eigenständigen akademischen Weg einzuschlagen und hartnäckig zu verfolgen. Wichtig war dabei die Unterstützung durch Jan Philipp Reemtsma, den Direktor des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Akçam, gegenwärtig Gastprofessor für Geschichte an der University of Minnesota, widmet ihm seinen Band «From Empire to Republic». Dieser besteht aus mehreren Essays, die um Akçams Einsicht vom armenischen Völkermord als dem zentralen Tabu der türkischen Nationalgeschichte kreisen. Radikal und zugleich einfühlsam hinterfragt er die innertürkische Perspektive auf die nationale Gründungsepoche (1913–1938). Er hat seine grundlegende These bereits 1992 in einem Buch auf Türkisch formuliert – jetzt ist sie konzentriert im zweiten Kapitel des Bandes auf Englisch nachlesbar.
Akçam verbindet seine These mit der Überzeugung, dass ohne ein radikales Überdenken der Entstehung des Nationalstaats die politische Kultur der Republik beschädigt, das heisst in Sachen Menschenrechte und Demokratie defizitär bleiben wird. Insofern ist das historische Schaffen für ihn der Schlüssel zur demokratischen Zukunft seines Landes. Dies umfasst sowohl gegenwartsgeschichtliche Reflexion als auch dokumentarische Knochenarbeit mit türkischen, osmanischen, armenischen und anderen Quellen. So analysiert Akçam detailliert die jungtürkische Politik ethnischer Homogenisierung Anatoliens, die 1913 einsetzte, im Frühjahr 1914 mit heimlich organisierten Vertreibungen osmanischer Christen von der Westküste einen ersten Höhepunkt fand und im Ersten Weltkrieg in der Vernichtung der armenischen Gemeinschaft gipfelte. Auch rekonstruiert er die Herausbildung der konkreten Entscheidung dafür im März/April 1915.
Der Prozess gegen die Verantwortlichen
Akçams Buch «Armenien und der Völkermord» enthält drei Teile: eine Darstellung des Völkermordes und seiner Vorgeschichte, eine Recherche über die internationalen und liberalen osmanischen Anstrengungen, den Verantwortlichen 1918–1920 den Prozess zu machen, und eine Auswahl von Übersetzungen der Prozessprotokolle. Diese 1996 erstmals veröffentlichte, weiterhin aktuelle Doktorarbeit Akçams verdiente eine Neuauflage. Schade ist nur, dass die Gelegenheit nicht genutzt wurde, um einen Namenindex beizufügen und Errata zu korrigieren; inakzeptabel ist, dass jeglicher Hinweis auf die Erstauflage fehlt. – Nicht nur nationalistische Drohungen, auch Demütigungen akademischer Art musste Akçam in den vergangenen zwei Jahrzehnten über sich ergehen lassen. Im Gegensatz zum akademischen Establishment hat der marginalisierte Dissident die Zeichen der Zeit und die Herausforderungen der Gesellschaft früh erkannt. Daher hat er intellektuell etwas zu sagen und wird – so ist für die Türkei zu hoffen – bald eine Lehrposition in seinem eigenen Land erhalten.
Deutsche Zeugen und Akteure
Das Versagen, sich mit dem Völkermord auseinanderzusetzen, hängt damit zusammen, dass der Staat den Wissenschaftsbetrieb kontrolliert und die Positionen entsprechend verteilt, zu einem guten Teil auch an den Privatuniversitäten. Damit ist für Selbstreproduktion und -referenzialität gesorgt. Das lässt sich vom deutschsprachigen Wissenschaftsbetrieb so nicht sagen. Und doch ist es nicht die Historikerzunft – ihr ist die deutsche Vergangenheit an der Seite der Jungtürken bisher ziemlich fremd geblieben –, sondern ein pensionierter Journalist, der im April dieses Jahres eine wissenschaftliche Ausgabe der überaus bedeutenden deutschen Quellen zu Kleinasien im Ersten Weltkrieg vorgelegt hat. Damit kam er gerade noch rechtzeitig für eine Debatte, die unterdessen, mit 90 Jahren Verspätung, auch die «politische Klasse» erfasst hat. Wolfgang Gust, der Herausgeber, wurde dabei von seiner Frau Sigrid, einer Juristin, und einem internationalen Netzwerk von Experten unterstützt.
In einer substanziellen Einleitung von rund hundert Seiten fasst Gust die Etappen und Schauplätze des Völkermords zusammen und wirft zugleich einen guten, kritischen Blick auf die deutschen Akteure vor Ort. Darunter befanden sich so verschiedene wie Johannes Lepsius (deutscher Patriot, aber schliesslich doch noch mehr ein Christ, Chronist und humanitärer Aktivist) sowie Kriegsminister Enver Paschas Freunde Hans Humann, Marineattaché bei der Botschaft, und Fritz Bronsart von Schellendorf, der Chef des Generalstabs. Auf die Einleitung folgen 500 Seiten mit einer Auswahl diplomatischer Akten, dann deren englische Kurzversion und schliesslich ein Index. Die deutsche Dokumentation ist zentral, weil Deutsche als Kriegsverbündete privilegierte Zeugen waren, sowohl in unmittelbarer Nähe der militärischen und zivilen Eliten als auch mit relativ freiem Zugang ins Landesinnere, wo sich der Völkermord abspielte. Die Gesamtheit der einschlägigen deutschen diplomatischen Akten hat Gust auf dem Internet zugänglich gemacht (
[Links nur für registrierte Nutzer], wo auch die Möglichkeit einer elektronischen Suche besteht.
Die Propagandaversion
Yusuf Halaçoglu und sein Team haben sich die Aufgabe stellen lassen, eine nationalistische Up-to-date-Version zu formulieren, wie die Armenier aus Kleinasien «verschwanden». Vor allem der Band aus dem Jahr 2004 bemüht sich darum, auch ausländische Quellen zu berücksichtigen, insbesondere prestigeträchtige deutsche. Dabei soll das Thema von seiner «mathematischen, das heisst demographischen Dimension» angegangen werden. So wird Walter Rössler, der deutsche Konsul in Aleppo, als Beleg für die Behauptung genommen, nur etwa 200 000 Armenier seien während «der Ereignisse im Ersten Weltkrieg» umgekommen.
Rössler machte allerdings in seinem Brief an Reichskanzler Bethmann vom 20. Dezember 1915 darauf aufmerksam, dass die von Grossbritannien vorgebrachte Zahl von 800 000 armenischen Toten leider realistisch sei, und warnte eindringlich vor Gegenpropaganda. Der Missbrauch dieser Quelle geht so vor sich: Rössler schätzte im selben Schreiben, dass eine halbe Million Deportierter noch lebend Syrien erreichte und dass eine weitere halbe Million gar nicht deportiert wurde. Diese Million übernehmen die Autoren, subtrahieren sie von den 1,5 Millionen, die sie selbst als Anzahl kleinasiatischer Armenier annehmen, ziehen weitere Hunderttausende ab, die sie als auslandabwesend taxieren, und enden so bei einer Minimalzahl, die für naive Leser als gestützt durch deutsche Quellen erscheint.
Wege der Verdrehung
Gewalt wird nicht nur den deutschen Quellen angetan. Halaçoglu spricht in seinem ersten Buch von vorübergehenden Umsiedlungen und der vorgesehenen Rückgabe der umfangreichen armenischen Besitztümer. Die vielfach bezeugte Wirklichkeit vor Ort, aber auch Quellen des Zentralstaats sagen anderes aus: Nach seiner Inspektionsreise nach Mittel- und Ostanatolien hielt der Innenminister Talat am 5. Dezember 1916 befriedigt fest, wie segensreich es gewesen sei, die Armenier zu entfernen, und wie erfolgreich die Muslime deren Güter und Läden in Besitz genommen hätten.
Es fehlt an Terrainkenntnis, am Willen zum Gesamtbild und an historischer Quellenkritik. So ist es absurd, die Anweisungen in einem Telegramm Talats vom 29. August 1915 an die Provinzgouverneure Mittel- und Ostanatoliens als einen Beleg dafür zu zitieren, dass bei der Deportation keine Vernichtungsabsicht geherrscht habe, die Sicherheit gewährleistet gewesen sei, gewalttätige Beamte bestraft worden sowie die Katholiken und Protestanten von der Deportation ausgeschlossen gewesen seien. Denn die dortigen Verschickungen waren zum grossen Teil schon abgeschlossen, inklusive Katholiken und Protestanten, die meisten Männer ausserhalb der Städte massakriert, Frauen und Kindern vielfacher Drangsal – Massenvergewaltigung, Hunger, Durst, Krankheit – ausgesetzt worden, und Talat hatte kurz zuvor dem deutschen Botschafter Hohenlohe mitgeteilt: «La question arménienne n'existe plus.»
Das Telegramm vom 29. August, das als «Beweis» gegen den Völkermord aufgeführt wird, hatte schon Botschafter Hohenlohe als Propagandatrick durchschaut. Denn zusammen mit weiteren Telegrammen hatte Talat Bey es am 2. September 1915 in deutscher Übersetzung dem deutschen Botschafter zuhanden der europäischen Presse übergeben. Hohenlohe riet jedoch in seinem Brief vom 4. September dem Reichskanzler Bethmann-Hollweg von einer Publikation ab – zu offensichtlich war die Propagandalüge, zu grotesk war der Widerspruch zu den gegenteiligen Berichten des eigenen Nachrichtendienstes.
Man nimmt als Historiker erschüttert zur Kenntnis, dass Berufskollegen im Staatsdienst die Disziplin und Ordentlichkeit der Deportationen, die vorzügliche Verpflegung und gesundheitliche Betreuung sowie den komfortablen Transport mittels Eisenbahn oder Ochsenwagen behaupten und sich damit brüsten, es habe sich dabei «wohl um die systematischste Organisation von Umsiedlungen im 20. Jahrhundert» gehandelt. Vollends tragikomisch wird es, wenn der Steuererlass des Innenministeriums für die Deportierten vom 4. August 1915 – als das meiste armenische Gut geraubt war und viele Armenier schon getötet waren – als besonders humanitäre Massnahme des Staates gepriesen wird. Solche Geschichtsvorstellungen sind unhaltbar und Teil einer zu überwindenden politischen Kultur. Justizminister Çiçeks Rückgriff auf nationalistische Instinkte, um eine kritische Historikerkonferenz zu torpedieren, belegt dies. Die heftigen Reaktionen in der Presse gegen Çiçek nähren indes die Hoffnung, dass die Öffentlichkeit dies fortan nicht mehr duldet und die Konferenz bald doch noch stattfinden kann.