Morden und verschweigen
Und sich erinnern: Zum neunzigsten Jahrestag des türkischen Völkermordes an den Armeniern sind mehrere wichtige Bücher erschienen
von Marko Martin
Charles Aznavour: Der einzige Zufall in meinem Leben bin ich. Militzke, Leipzig. 270 S., 18,60 EUR.
Wolfgang Gust (Hg): Der Völkermord an den Armeniern 1915/16. Dokumente aus dem Politischen Archiv des deutschen Auswärtigen Amts. Zu Klampen, Springe. 675 S., 44 EUR.
Rolf Hosfeld: Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern. Kiepenheuer & Witsch, Köln. 351 S., 17,60 EUR.
Huberta von Voss (Hg): Porträt einer Hoffnung. Die Armenier. Hans Schiler, Berlin. 415 S., 16,50 EUR.
Es war, wenn man so will, Multikulti avant le lettre: Muslime predigten in Kirchen, Christen in Moscheen, man pries Toleranz und Frieden, und sogar ein "Nie wieder!" zog bereits als rhetorische Figur seine Kreise. Nie wieder Massaker und Pogrome an Armeniern, gelobte man sich damals 1908 in Konstantinopel - der Sultan war gerade gestürzt, und ein sogenanntes jungtürkisches Revolutionskomitee unter der Führung Enver Paschas beschloß unter den Augen eines vernetzten, technisch avancierten und humanistisch gebildeten Europa, nunmehr auch das osmanische Reich zu modernisieren. Sogar öffentlich zelebrierte Besuche auf armenischen Friedhöfen gab es - quasi als frühe Beispiele pompöser, selbstberauschter Gedenkpolitik.
Nur sieben Jahre später aber, am 24. April 1915, werden in eben jenem Konstantinopel auf Befehl des Innenministers Talaat Bey Hunderte armenischer Notabeln verhaftet und anschließend deportiert - Auftakt zum ersten organisierten Völkermord des 20. Jahrhunderts mit 1,5 Millionen Opfern. Anläßlich des neunzigsten Jahrestags jenes Genozids, der von der Türkei bis zum heutigen Tag harsch geleugnet wird, sind jetzt mehrere Bücher erschienen - allesamt hochinformativ und wichtig zum Verständnis nicht nur einer verdrängten Vergangenheit. Während man nämlich in dem von Huberta von Voss herausgegebenen Sammelband "Porträt einer Hoffnung. Die Armenier" mit Staunen liest, wie viel kreatives Potential das älteste christliche Volk noch heute aufzubieten vermag, provoziert die Lektüre zweier anderer Bücher pures Entsetzen. Sowohl Rolf Hosfelds ebenso atmosphärisch dichte wie faktenbeglaubigte "Operation Nemesis. Die Türkei, Deutschland und der Völkermord an den Armeniern" als auch der von Wolfgang Gust herausgegebene und kommentierte 700-Seiten-Band mit Dokumenten aus dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amtes offenbaren, wie unermeßlich das Ausmaß des Nicht-Wissens-Wollens auch hierzulande ist.
Wer wohl hat schon einmal vom Fluß Göksu gehört (1800 Frauen und Kinder an seinen Ufern nackt erschossen), wer von der Stadt Urfa (700 junge armenische Männer an einem einzigen Tag umgebracht), wer von Aleppo als Drehkreuz der Deportationen, wer von den Massenvergewaltigungen und Massenexekutionen entlang der Bagdadbahn, wer von Deir-es-Zor, wo man allein 12 000 Armenier niedermetzelte?
Dabei hätte man es wissen können, wissen müssen. Bereits 1986 (nachzulesen in seinem packenden, inzwischen leider vergriffenen Band "An den Brandherden der Welt") hatte Ralph Giordano auf der Basis jener damals noch schwer zugänglichen Außenamtsakte "Türkei 183" eine Fernsehdokumentation gedreht, die vom WDR ausgestrahlt wurde und eine Unzahl feindlicher Reaktionen provozierte. Das Völkermord-Leugnen reichte damals von einem "moderaten" türkischen Historiker ("Es war ein gegenseitiges Massaker") über nächtliche Drohanrufe und Denunziationen ("Türkenfeind") bis hin zur türkischen Presse, die ihre tendenziöse Berichterstattung immer wieder mit der Formulierung einleitete: "Yahuda assili Ralph Giordano... Der Jude Ralph Giordano".
Damit hatte man gar nicht einmal so Unrecht. Ja, es waren und sind Juden, die ihre Stimme zugunsten der Armenier erhoben: Franz Werfel in seinem Roman "Die vierzig Tage des Musa Dagh", im Jahr von Hitlers Machtergreifung erschienen, Edgar Hilsenraths wunderbares "Märchen vom letzten Gedanken" von 1989, von Ralph Giordanos Publizistik ganz zu schweigen. Dies aber nur nebenbei und als Gegenbeweis zu jener widerlichen Behauptung, die Juden würden mit der Thematisierung der Shoah anderes Gedenken unmöglich machen - wie umgekehrt auch die Political-Correctness-Irrsinnigen nicht müde werden zu deklamieren, Reflexionen über andere Genozide relativierten den Holocaust. Als im Juni 1921 im Berliner Landgericht der Prozeß (und nachfolgende Freispruch) gegen den armenischen Studenten Soghomon Tehlirjan stattfand, der in Charlottenburg den untergetauchten Völkermörder Großwesir Talaat Pascha hingerichtet hatte, saß im Publikum auch der Jurastudent Robert Kempner, der, später von den Nazis als Jude vertrieben, 1945 als amerikanischer Ankläger bei den Nürnberger Prozessen nach Deutschland zurückgekehrte.
Wie aber kommt es, daß sich inzwischen hierzulande kaum jemand - und auch die politische Opposition, so ist zu vermuten, nur aus taktischen Gründen - an der Tatsache stört, daß der zukünftige EU-Kandidat Türkei bis heute nicht einmal den Mut zu einer Entschuldigungsgeste aufzubringen bereit ist? Dabei würde in diesem Falle nicht einmal das kemalistische Selbstverständnis angekratzt, denn Atatürks autoritäres Reformregime installierte sich erst 1921, zwei Jahre nach den - wohlgemerkt innertürkischen - Prozessen, die mit Todesurteilen gegen die abwesenden Talaat, Enver und andere "Komitee"-Mitglieder endeten. Gegen Ende des Krieges hatten diese sich 1918 auf einem deutschen Torpedoschiff in Richtung Schwarzes Meer abgesetzt, während im März 1919 der neue Innenminister Djemal erstmals erklärte, daß 1915/16 "800 000 Armenier tatsächlich ermordet worden waren". Weshalb also fällt die heutige Türkei, begleitet vom Schweigen Europas, hinter bereits einmal festgesetzte Standards zurück und wiederholt stur jene Dolchstoß-Verschwörungstheorien, nach welchen die Armenier sich damals kurz vor einer Machtübernahme befanden, um das osmanische Reich mit russischer Hilfe zu zerstören?
Sowohl Rolf Hosfeld wie Wolfgang Gust räumen nach Akteneinsicht mit diesen Mythen gehörig auf. Gewiß: Wie überall im langsam zerfransenden Reich des "kranken Mannes am Bosporus", wie etwa bei Kurden oder Tscherkessen, gab es am Vorabend und dann während des Ersten Weltkrieges auch in armenisch besiedelten Gebieten Revolten, separatistische Bestrebungen oder auch pure Räubereien, denen Türken aus benachbarten Dörfern und Städten zum Opfer fielen. Dazu schreibt Gust: "Um ihre These von den gefährlichen Armeniern zu belegen, behaupteten die Türken, die Armenier hätten in mehreren Städten Aufstände angezettelt. Mit Ausnahme von Van, wo das kaiserliche Deutschland keine Vertretung unterhielt und kein Kontakt zur deutschen Missionsanstalt bestand, konnten die deutschen Konsuln und ihre Informanten nachweisen, daß diese sogenannten Aufstände in Wahrheit nichts anderes als Abwehrkämpfe waren. ,Eine von den Armeniern vorbereitete Revolution bzw. Erhebung hat es nach meinen Informationen nur in Van gegeben', faßte der Konsul von Erserum, Erwin von Scheubner-Richter, die deutschen Erkenntnisse zusammen, ,an anderen Orten war es Selbstverteidigung'." Die Auslöschung des armenischen Volkes war längst geplant, die Route der tödlichen Deportationszüge in die Wüste bereits festgelegt - und dies mit einer kalten Präzision, die für eine Stringenz im Produzieren von Alibis kaum noch Raum ließ. ",In einer Anzahl von Häusern wurden Papiere beschlagnahmt', schrieb Vizekonsul Hoffmann aus Alexandrette, ,anscheinend nur deshalb, weil sie fremdsprachlich waren. Dasselbe Schicksal hatten Bücher, besonders englische.' ...Amerikanische Missionare in Mamuret ul-Aziz amüsierten sich, wie die türkischen Ermittler das ihnen unbekannte Toilettenpapier mit größtem Mißtrauen auf Geheimschriften untersuchten, weil es natürlich unbedruckt war. Die Polizisten verbrannten es schließlich sehr vorsichtig und versuchten aus dem Fall der verkohlten Teilchen auf verborgene Botschaften zu schließen."
Auf der einen Seite durch ein infames Regime verhetzte Büttel und sogenannte "einfache Türken" (zu deren Ehre gesagt sei, daß nicht wenige von ihnen auch armenische Nachbarn versteckten und erretteten) - auf der anderen Seite eine erfolgreiche und nicht nur christlich, sondern vor allem westlich orientierte Minderheit, an der man sich nun schadlos halten konnte. Es waren nicht nur mutige deutsche Missionsangestellte, sondern auch von ihrem Gewissen getriebene Konsuln und mit Botschafter Paul Graf Wolff-Metternich sogar der offizielle Vertreter Deutschlands, die all dies klar sahen und in Richtung Berlin dokumentieren konnten, welche Ausrottungspolitik der türkische Kriegsverbündete gerade betrieb. "Doch Kanzler Theobald von Bethmann Hollweg, nominell auch Außenminister, versagte sich dem Wunsche seines Botschafters vollständig. ,Die vorgeschlagene öffentliche Koramierung eines Bundesgenossen während laufenden Krieges wäre eine Maßregel, wie sie in der Geschichte noch nie dagewesen ist', erboste er sich in einer handschriftlichen Notiz am 17. Dezember 1915, ,unser einziges Ziel ist, die Türkei bis zum Ende des Krieges an unserer Seite zu halten, gleichgültig, ob darüber Armenier zu Grunde gehen oder nicht.'"
Wenige später wurde in einer Reichstagssitzung dem sozialdemokratischen Abgeordneten Karl Liebknecht, der genauere Auskunft begehrte, brüsk das Wort verweigert, während man sich - wie heutzutage Gerhard Schröder im Umgang mit seinem Tschetschenienschlächter-Freund Putin - auf "innere Angelegenheiten" herausredete und das angebliche Recht des Verbündeten unterstrich, "Maßnahmen zu ergreifen, um eine auf seinem Territorium stattfindende subversive Tätigkeit auszulöschen". Und der deutsche Leiter des Orientbüros sekundierte: "Die halbgebildeten Armenier, die in Europa und Amerika moderne Zivilisation und revolutionäre Ansichten kennenlernten, impften den Bacillus der Unlust und Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Verhältnissen, in die Heimat zurückgekehrt, ihren Landsleuten ein." Richtig an dieser antiwestlichen Philippika ist nur eines: Bis heute sind die Armenier - ob nun in Paris, New York, Beirut oder selbst in Jerewan - in ihrer Mehrheit keine Schollentrottel, sondern feinnervige Zeitgenossen und nicht selten auch im produktiven Streit mit den Selbstgewißheiten der eigenen Ethnie. Wer diese Menschen mit steinaltem Gedächtnis und dennoch immenser Lebensfreude kennenlernen möchte, sollte entweder Huberta von Voss' Porträtband lesen - oder Charles Aznavours alias Shahnour Aznavourians soeben auf deutsch erschienene Autobiographie. Dort heißt es: "Endlösung? Nichts da, ihr Mistkerle, ihr habt mich nicht gekriegt. Und ich bleibe, zum Mißfallen einiger, ein Mensch mit Erinnerungen. Und bin deswegen noch lange kein Feind des türkischen Volkes..." Oder in den Worten eines seiner bewegendsten Chansons, gewidmet dem armenischen Volk: "Ils ont bientôt créé un univers noveau/ Sans Holocaust et sans ghettos // Bald schufen sie eine neue Welt/ Ohne Holocaust und ohne Ghettos."