Die Einkommensmitte schrumpft, die Alarmsirenen heulen. Als ob wir nicht ein ganz anderes Problem hätten: eine Politik, die die Mitte politisch neurotisiert, verteilungsgerecht entkernt und semantisch so lange umdeutet, bis sie in ihr Weltbild passt. (...)
Wenn aber Politik nicht Norm, Regel, Standard prämiert, sondern Anomalie, Ausnahme, Sonderfall, darf sie sich nicht wundern, dass die Mitte mentalen Schaden nimmt: als Ankerstelle des Üblichen, Matrix der Tradition – und Maß aller Dinge. Wer den Schwerpunkt der Lebensverantwortung weg von seinem natürlichen Zentrum, der Familie, beständig hin zum Staat verlegt, das generationelle Verantwortungsdenken durch die Diabolisierung des Eigentumsbegriffs denunziert und an den Sozialstaat die Erwartung knüpft, dieser sei nicht nur im Ernst- und Bedarfsfall anzurufen, sondern vor allem für die Statussicherung zuständig, kann sich nicht über ein Volk der Knauser und Knicker, Schielaugen und Raffkes, Preller und Spitzbuben, Gammler und Faulpelze beschweren. (...)
Besonders hart getroffen fühlt sich der angestellte Normalarbeitnehmer. Im Gegensatz zu Beamten und Selbstständigen unterliegt er der Sozialversicherungspflicht; anders als Gutverdiener kann er sich nicht der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung entziehen, bürden ihm Beitragsbemessungs- und Versicherungspflichtgrenze einen Großteil der Sozialstaatskosten auf. Als Dank dafür darf er mit seinen Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung die staatlichen Zuschüsse finanzieren, mit deren Hilfe Scheinselbstständige, Mini-, Midi- und Ein-Euro-Jobber seinen Arbeitsplatz gefährden. Bei den Steuerreformen der vergangenen Jahre wurden vor allem Gut- und Geringverdiener sowie Kapitalbesitzer entlastet (....)
Hinzu kommt, dass die Krankenkassen ihre Leistungskataloge zusammengestrichen haben, dass Sparerfreibetrag und Pendlerpauschale gekürzt wurden (ohne im Gegenzug das Steuersystem zu vereinfachen), dass die angehobene Mehrwertsteuer sowie steigende Energie- und Lebensmittelpreise den Alltag verteuern – und dass vier Prozent des Gehaltes fürs Riestern draufgehen, weil die gesetzliche Rente, so viel ist sicher, kaum mehr abwerfen wird als die Grundsicherung... – dereinst, nach 40 Jahren Arbeit.(....)
Die Befürchtung, die Melkkuh der Nation zu sein, ist aber nicht nur beim Durchschnittsverdiener verbreitet. Wer heute mit dem Gedanken spielt, der Menschheit als Ärztin, Pfarrer, Juristin oder Wissenschaftler zu dienen, kann dabei längst nicht mehr auf das S-Klassen-Gehalt eines Stuttgarter Bandarbeiters oder gewerkschaftlich organisierten Busfahrers zählen. Beschert ihm das Glück dennoch ein gehobenes Einkommen, bedeutet das für ihn und seine Familie kein sorgenfreies Luxusleben, im Gegenteil: Der Spitzensteuersatz greift bereits ab einem Einkommen von 52.000 Euro – und frisst mit jedem Lohnzuwachs auch die Leistungsbereitschaft auf. (....)
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