Gegen die Gleichung Islam = Gewalt
Ende der 20er Jahre herrschte in Deutschland eine Welle der Begeisterung für nicht-westliche Religionen. Davon ist heute nicht mehr viel zu spüren – der „Kampf der Kulturen“ ist das bestimmende Thema. In einem Forschungsprojekt untersucht das Berliner Zentrum Moderner Orient, wie Europa seine Muslime wahrnimmt.
BERLIN. 6 000 Unterschriften brachten Abgesandte einer Bürgerinitiative vor kurzem ins Rathaus des Berliner Bezirks Pankow. Sie wollen verhindern, dass die islamische Ahmadija-Gemeinde auf einer Industriebrache in der Nähe der Autobahn eine Moschee baut. Als die Ahmadijas, Anhänger der islamischen Reformgemeinde, 1928 die erste Berliner Moschee überhaupt errichteten, galt der Bau vielen als Inbegriff ihrer Orientträume. In Deutschland gab es gerade eine Welle der Begeisterung für nicht-westliche Religionen.
Heute gibt es eine Begeisterung für den „Kampf der Kulturen“, und „der“ Islam ist zum Container für politische Abarbeitungen aller Art geworden.
„Religion ist nicht das Problem“, sagt Dietrich Reetz, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Berliner Zentrum Moderner Orient (ZMO). „Aber eine beliebte Ressource für die politische Mobilisierung – auf allen Seiten.“ Der Politikwissenschaftler und Islamexperte koordiniert das vor kurzem gestartete Forschungsprojekt „Muslime in Europa“.
Die Wissenschaftler wollen untersuchen, ob und in welchen Formen ein religiös bestimmtes Leben von Muslimen in Europa möglich ist und welche Hindernisse damit verbunden sind. Die Ergebnisse sollen helfen, rhetorische Nebel zu lichten, nachdem sich die Forschung nach 9/11 auf Themen wie Islamismus und Fundamentalismus verengt hat. Gefördert wird das auf drei Jahre angelegte Projekt vom Bundesministerium für Forschung und Bildung, außer dem ZMO sind die Universitäten Frankfurt/Oder, Halle und Hamburg beteiligt.
Die Untersuchung der Ahmadijas in Deutschland, Bauherren der geplanten Moschee, ist eines von sechs Teilprojekten des Forschungsverbundes, andere befassen sich mit islamischen Ausbildungeinrichtungen oder den möglichen „Vorbotinnen eines ‚Euro-Islams'“, Frauen in der islamischen Gemeinschaft Milli Görüs.
„Für Muslime stellt sich nicht die Frage, ob sie Europäer sein wollen, das wollen sie in ihrer großen Mehrheit“, sagt Reetz. Aber es stelle sich für sie die Frage, ob sie das als fromme Menschen tun können – wenn die öffentliche Ausübung ihrer Religion von anderen nicht nur als bewusste Abkehr von europäischen Werten aufgefasst, sondern sogar als Bedrohung empfunden wird. Durch den inzwischen politisch eingeübten Konnex von Religion und Politik, durch die gebetsmühlenartig wiederholte öffentliche Verknüpfung von Islam und Gewalt – den politischen Scharfmachern auf beiden Seiten folgend – werden die wirklich Frommen unter den Muslimen plötzlich zu den Bösen. Satisfaktionsfähig ist nur, wer abschwört und auf Kultur, Sprache und Religion verzichtet.
Am ZMO befasst man sich seit seiner Gründung 1996 mit solchen Fragen. Das Berliner „Geisteswissenschaftliche Zentrum“ ist die einzige Forschungseinrichtung Deutschlands, die sich interdisziplinär und in historisch-vergleichender Perspektive mit dem Nahen Osten und Afrika sowie Süd- und Südostasien befasst – den Gegenden also, die man zu Beginn außereuropäischer Regionalstudien vor 100 Jahren den „Orient“ nannte.
„Wir verstehen uns als Schnittstelle zwischen Kultur- und Sozialwissenschaften“, sagt ZMO-Direktorin Ulrike Freitag. Die hauptsächlich vertretenen Disziplinen sind Geschichte, Ethnologie und Islamwissenschaft. Vergleichende Studien zum Wertewandel von Jugendlichen in Deutschland und der arabischen Welt, Sommerschulen zu „Frauen im Islam“ oder Untersuchungen zum Engagement Chinas in Afrika (siehe „Forschung über das Afrikabild der Chinesen“) betreffen aktuelle soziale und politische Probleme, die durch historische und kulturwissenschaftliche Grundlagenforschung unterfüttert werden.
Freitag, Professorin für Islamwissenschaft an der Freien Universität Berlin, bedauert allerdings, dass die dringend notwendige Regionalexpertise in Deutschland nicht ausreichend institutionell gefördert wird, wie das in den europäischen Nachbarländern und den USA schon längst der Fall ist. Auch am ZMO muss man sich mit Projektmitteln durchhangeln – für gute Mitarbeiter mit exzellenten Kenntnissen auf Dauer keine Perspektive. Da die Berliner Forscher weltweit gefragt sind, gehen sie irgendwann ins Ausland.
Das mangelnde kulturelle Wissen über Islam und Muslime verschärft eine Debatte, die seit 9/11 hysterisch aus den Fugen geraten ist und das Zusammenleben von Muslimen und Nicht-Muslimen belastet.
Islamisch begründete Selbstmordattentate haben mit Religion wenig zu tun. Im Gegenteil: „Wir wissen längst, dass die Täter nicht aus konservativ religiösen Schulen kommen, sondern viel eher aus säkularisierten Kontexten, in denen sie indessen oft gescheitert sind“, erklärt Reetz und bedauert, dass man die sozial befriedenden Funktionen, die islamische Gruppen auch haben können, oft übersieht: wenn sie nämlich bindungslosen Migranten Halt geben.
Der Grundstein in Berlin ist gelegt, trotz der Prosteste: Die Ahmadijas werden ihre Moschee bauen – die 77. in Berlin.