Bei der sogenannten „Kriegsschuldfrage“ ist es methodisch erforderlich, zwischen 3 unterschiedenen Aspekten zu differenzieren: a.) dem moralischen, b.) dem völkerrechtlichen und c.) dem historischen. Leider werden in den meisten Diskussionen die Aspekte – die unbestreitbar einander berühren – nicht hinreichend auseinander gehalten. – In Zusammenhang mit historischen Fragestellungen ist der Terminus c.) sehr ungenau: Es kann auf Basis historischer Forschung nicht primär um die Feststellung einer (moralisch interpretierbaren) „Schuld“ gehen, sondern vorrangig um eine Art Ursachenforschung, die kaum jemals zu der „hinreichenden“ Konfliktbedingung wird vorstoßen können. Aufgezeigt werden kann ein großer, nie vollständiger, Komplex notwendiger Bedingungen, im Grenzfall der letzte, scheinbar entscheidende Anstoß, der unmittelbar dem Ausbruck des Konfliktes vorhergeht.
Dies ist vorauszuschicken, um klarzustellen, worum es in den sogenannten „Historikerstreiten“ überhaupt gehen kann (auch wenn bekannte Historiker den sogenannten Fakten Bedeutungen zuordnen, deren Erörterung keineswegs den Titel „geschichtswissenschaftlich“ verdient). Beispielsweise ist es unzutreffend, Fischer habe Aussagen über die deutsche Alleinschuld getroffen oder durch neuere Studien – beispielsweise Ferguson – sei die deutsche Kriegsschuld widerlegt worden. In Wahrheit handelt es sich hier stets nur um divergierende Nuancen in der Beurteilung des Komplexes „notwendiger Voraussetzungen“ oder um verschiedene Auffassungen bezüglich sogenannter entscheidender Anstöße für den Konfliktausbruch.
Ich versuche, Fischers (durchaus umstrittene) Thesen in wesentlichen Punkten zusammenzufassen, soweit dies überhaupt in einem begrenzten Rahmen möglich ist (dabei lasse ich die mehr geschichtsphilosophischen Aspekte, Fragen der Kontinuitäts- und Sonderwegsdebatte, einmal fort, da sich darüber trefflich, aber doch nur ergebnislos, streiten lässt):
- Spätestens 1913 sei der Gedanke eines Präventivkrieges gegen Russland in den Fokus der Außenpolitik des deutschen Reiches gerückt („Endkampf der slawischen und germanischen Rasse“, russische Aufrüstung etc.)
- Der sogenannte Blankoscheck sei ein bloßer Vorwand („Bündnistreue“) gewesen: Österreich sei an einem Konflikt mit Russland keineswegs interessiert gewesen und habe seine Verhandlungen mit der russischen Seite am 30./31. Juli 1914 auf Betreiben Deutschlands abgebrochen. Nicht der Blankoscheck wurde von deutscher Seite als Risiko gesehen, vielmehr dass sich Österreich trotz Blankoscheck nicht für einen Krieg mit Russland engagieren lasse (daher sei der deutsche Rat an Österreich, Belgrad einfach liegen zu lassen, da alle Kräfte gegen Russland zu bündeln seien, nicht nur strategisch, sondern durch das primäre Interesse diktiert gewesen resp. durch die „fixen Ideen“, die als primäres Interesse erachtet wurden: d.h. die Chance gegen Russland präventiv losschlagen zu können). – Das Attentat von Sarajewo sei als willkommener Anlass betrachtet worden (Fischer zitiert Dokumente des diplomatischen Austausches zwischen Österreich und Deutschland aus dem Frühjahr/Frühsommer 1914, in denen von deutscher Seite dargelegt wurde, es bedürfe dringend eines Anlasses, um endlich gegen Russland losschlagen zu können. Von österreichischer Seite kam die Antwort, dass auf dem Balkan ein solcher Anlass gewiss nicht lange auf sich warten lassen werde).
- In Zusammenhang mit der Vorbereitung eines Präventivkrieges gegen Russland habe die auswärtige Politik bis kurz vor Kriegsausbruch um eine Neutralisierung Englands gerungen.
- Der Kaiser habe noch kurz vor Kriegsausbruch alle Kräfte gegen Russland (unter Hintanstellung des französischen Kriegsschauplatzes) wenden wollen, da Russland als der entscheidende Gegner erachtet wurde. Moltke habe entgegnet, dies sei unmöglich, da sämtliche strategischen Zielsetzungen auf dem Schliefen-Plan basierten. Der Kaiser habe geantwortet, Moltkes Oheim hätte ihm (dem Kaiser) mit Sicherheit etwas anderes gesagt.
- Fischer lehnt wie jeder seriöse Historiker die These von der ausschließlichen Kriegsschuld des Deutschen Reiches ab, weist jedoch auf eine überwiegende Verantwortlichkeit hin. Diese Vorstellung setzt freilich voraus, dass die Protagonisten auf Basis ihrer eigenen Vorausetzungen fahrlässig agiert hätten (z.B. hält Fischer den Präventivkriegsgedanken gegen Russland für eine völlig unausgogerene idée fixe insbesondere Bethmann-Hollwegs).
Der Begriff der primären oder der überwiegenden Verantwortung ist naturgemäß fragwürdig und anfechtbar (in gleicher Weise ließe sich zumindest der russischen Seite Fahrlässigkeit unterstellen. Stichworte: erst Teilmobilmachung, dann allgemeine Mobilmachung, innenpolitische Schwierigkeiten). - Die Fischer-Kontroverse ist nur vor dem Hintergrund einer Exkulpierungsstrategie älterer Historiker nach dem zweiten Weltkrieg überhaupt verständlich. Was Fischer am meisten verärgerte, war die Ignoranz gegenüber den sogenannten Fakten, vor allem aber die naive Vorstellung, das Deutsche Reich sei aufgrund einer Ideologie von Nibelungentreue in eine Auseinandersetzung hineingeschlittert, die seine Protagonisten sonst niemals gewollt hätten (wie Lloyd George mit einem berühmten Ausspruch indirekt andeutete). Unbestreitbar ist jedoch, dass Fischer im wesentlichen nur die „deutsche Seite“ der Kriegsverantwortlichkeit beleuchtet. Nicht zuletzt durch diese Art von Pointierung und Selektionismus ist der schwerlich zu entkräftende Eindruck unzulässiger Einseitigkeit entstanden. – Fazit: Das Faktenmaterial ist teilweise umstritten, und Fischer mag in verschiedenen Details Unrecht haben und einseitig argumentieren (jedoch kaum einseitiger als seine bekannten Gegenspieler, beispielsweise Ritter). Fragwürdig ist ebenfalls die These einer deutschen Hauptverantwortung (wie soll ein Historiker die Verantwortung aufteilen?). Was jedoch bleibt, ist die Erkenntnis, dass das Deutsche Reich keineswegs durch einen bloßen Automatismus mit einem ungewollten Krieg konfrontiert wurde.
Noch ein Fazit:
Die Fischer-Kontroverse ist ein typisches Beispiel für die Lächerlichkeit der historischen Zunft, wenn sie ihr angestammtes Glacis verlässt und sich dem Verdacht aussetzt, die Geschichtswissenschaft zu einer Legitimierungs-, De-Legitimierungs- oder Exkulpierungsdisziplin zu degradieren. Es mag positivistisch naiv klingen, aber der Historiker möge sich nur um die sogenannten Fakten bemühen. Fischerkontroversen und Historikerstreite sind nur denkbar, wenn die „Fakten“ (wobei der Begriff des historischen Faktums allerdings selbst strittig sein mag, aber er ist und bleibt unverzichtbar) durch eine ideologische Debatte überlagert werden.