Kant - Schiller - Goethe
Hierzu ein passender Artikel, den ich ersteinmal unkommentiert der Diskussion hinzufügen möchte:
Quelle: NZZ Online,8. März.2004Glückseligkeit und Entsagung
Goethes Kant-Lektüre
Von Manfred Koch
Eine der Urszenen der deutschen Literaturgeschichte spielt sich am Abend des 20. Juli 1794 ab. Goethe und Schiller, bis dahin eher respektvolle Antipoden als Bündnispartner, hören in Jena gemeinsam einen Vortrag des Botanikers Batsch und geraten auf dem Nachhauseweg in ein freundschaftsstiftendes Streitgespräch. Goethe stellt dem Jüngeren - nach eigenem Zeugnis - in lebhaften Worten seine «Metamorphose der Pflanzen» vor und lässt «mit manchen charakteristischen Federstrichen eine symbolische Pflanze» vor dessen Augen entstehen. Schiller, «als ein gebildeter Kantianer», will von der Anschaulichkeit dieser Urpflanze nichts wissen und behauptet, das sei eine «Idee». Bevor es zu Verdriesslichkeiten kommt, lässt Goethe sich von Schillers «Anziehungskraft» überwältigen und besiegelt unter dem wohltätigen Einfluss von Gattin Charlotte das Zusammenfinden «zu dauerndem Verständnis». Das «literarische Commercium» der beiden einflussreichsten Schriftsteller Deutschlands hat begonnen.
ANSCHAUUNGSMENSCH
Goethes Bericht unter dem Titel «Glückliches Ereignis» entstand zwölf Jahre nach Schillers Tod; er ist in vielem wohl eher ein Stück Ursprungsmythologie als faktentreue Erinnerung. Von diesem Sonntag, so verstehen wir, datiert eine neue Epoche der deutschen Poesie; sie ist gekennzeichnet durch die glückliche Verbindung zweier diametral entgegengesetzter Naturen: hie der Anschauungsmensch, dort der Reflexionsdichter. Schiller hatte dieses Schema gleich nach der entscheidenden Begegnung selbst geprägt in jenem berühmten Brief zu Goethes 45. Geburtstag, der seine «spekulative» von Goethes «intuitiver» Verfahrensweise abhob und damit den Grund für das legendäre Begriffspaar «naiv» und «sentimentalisch» legte. Fortan war ein Modell vorgegeben, nach dem das Heil der Poesie (wenn nicht der ganzen deutschen Kultur) aus einer künftigen Synthesis philosophisch-mittelbarer und natürlich-spontaner Dichtung erwachsen sollte.
In dieser einprägsamen Antithese verstellte der Kantianer Schiller bald vollständig den Blick auf Goethes philosophisches Wissen. Goethe habe, so ein gängiges Vorurteil, von Kants «Kritiken» kaum Notiz genommen. Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts hat indessen der Kant-Editor Karl Vorländer minuziös nachgewiesen, dass es bei Goethe ein regelrechtes Kant-Erlebnis gab. Im Herbst und Winter 1790/91 liest Goethe intensiv die «Kritik der reinen Vernunft» sowie die «Kritik der Urteilskraft» und versieht seine Handexemplare mit kräftigen Unterstreichungen und Randbemerkungen. Darüber hinaus verfolgt er in den anschliessenden Jahren höchst aufmerksam die Weiterentwicklung der Kant'schen Theorie durch die Jenaer Philosophieprofessoren Reinhold und Fichte. Der Goethe, der an jenem Abend dem «gebildeten Kantianer» Schiller gegenübertrat, war zwar kein Kantianer im strengen Sinn, wohl aber ein sattelfester Kenner von Kans Philosophie. Durch Kants Schule gegangen zu sein, war in seinen Augen geradezu das verbindliche Bildungsmuster der deutschen Intelligenz. «Doch steht», schrieb er in Kants Todesjahr, «eine Bemerkung hier wohl am rechten Platz, dass kein Gelehrter ungestraft jene grosse philosophische Bewegung, die durch Kant begonnen, von sich abgewiesen, sich ihr widersetzt, sie verachtet habe.»
ZWECKMÄSSIGKEIT OHNE ZWECK
Goethes Lieblingsbuch war fraglos die «Kritik der Urteilskraft». Kants Ästhetik und Naturteleologie kamen dem Dichter und Naturforscher Goethe vor allem in einer Überlegung entgegen: Kunstwerke wie natürliche Organismen sind in sich zweckmässige Gebilde ohne äusseren Zweck. Dass Dichtung der moralischen Belehrung dienen solle, war ihm ein ebenso unausstehlicher Gedanke wie die Vorstellung, die Natur sei ausgerichtet auf ihre Vernutzung durch den Menschen. «Es ist ein grenzenloses Verdienst unseres alten Kant um die Welt», heisst es noch in einem Brief aus den letzten Lebensjahren, «dass er in seiner Kritik der Urteilskraft Kunst und Natur kräftig nebeneinander gestellt und beiden das Recht zugesteht: aus grossen Prinzipien zwecklos zu handeln.» Das Konzept einer sich selbst organisierenden Natur, die über die Kausalbestimmungen und Funktionalisierungen der Menschen erhaben ist, erlaubt Goethe, seine Kant-Lektüre der neunziger Jahre nahtlos an seine jugendliche Spinoza-Begeisterung anzuschliessen: Beide Philosophen hätten ihn bestärkt in seinem «Hass gegen die absurden Endursachen».
Ein Goethe'sches Handexemplar von Kants zweiter «Kritik» ist nicht überliefert; hatte Goethe kein gesteigertes Interesse an der praktischen Vernunft? Es gibt verschiedentlich Stellen in seinem Werk, die sich scheinbar über Kants rigorose Pflicht-Ethik mokieren. In den «Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten» (1795) ist die Hauptfigur eine Art lässlicher Kantianer: ein Geistlicher, der die kleine Gemeinschaft der Revolutionsflüchtlinge, mit der er reist, ganz im Kant'schen Sinn darin unterweist, die Herrschaft der Begierden, den Drang zu spontanen, affektgeleiteten Reden und Handlungen zu bekämpfen. Diese Disziplinierung wird den Betroffenen aber nicht einfach auferlegt, sondern anhand von «moralischen Erzählungen» suggeriert. In einer dieser Geschichten steht am Ende das Bild einer deutsche Familie, in der der Vater seinen Kindern ein kurioses Verzichttraining zumutet: Sie geniessen alle möglichen Freiheiten, bisweilen aber wird ihnen aus heiterem Himmel ein harmloser Wunsch ausgeschlagen. Die Erziehung des Vaters ist Einübung in «Entsagung»: das Erlernen einer Technik flexibler Verzichtbereitschaft.
Die deutliche Ironie der Schilderung sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hier um einen der «ernsten Scherze» Goethes handelt. In den Schlussabschnitten der «Kritik der Urteilskraft» hat Goethe vor allem jene Stellen angestrichen, die davon handeln, dass die Menschen zwar notwendig persönliche «Glückseligkeit» erstreben, sie aber ebenso notwendig in einer von individuellen Sehnsüchten und Bedürfnissen geleiteten Lebensführung verfehlen. Selbstverwirklichung ist nur möglich in einem stabilen sozialen Umfeld; dessen Ordnung verlangt aber gerade den Verzicht auf bedingungslose Durchsetzung des Ich. Goethes Programm der «Entsagung» - das Leitwort seiner zweiten Lebenshälfte - entsteht als Reaktion auf die zeitgeschichtlichen Wirren (Französische Revolution und Revolutionskriege) unter dem Eindruck der Lektüre Kants: Einer zunehmend unkontrollierbaren Wirklichkeit, die die Glücksansprüche des Subjekts dauernd auf unvorhersehbare Weise durchkreuzt, begegnet man am besten durch habitualisierte Enttäuschungsvermeidung. Wer in einer gebrechlichen Welt beständig auf der Suche nach letztem Sinn und rauschhaften Glückserfahrungen ist, richtet die anderen und vor allem sich selbst zugrunde.
Der Verfasser lehrt Neuere Deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Tübingen. Zuletzt erschien: «Weimaraner Weltbewohner» (Niemeyer 20020).