Aber nicht die Hintergründe.
Dem Abhilfe zu schaffen, will ich versuchen. Es wird nur etwas Zeit brauchen, den großen Stoff zu bewältigen, der Beitrag wird also wachsen.
Das Nibelungenlied
Unternähme man eine repräsentative Umfrage, ergäbe sich vermutlich, daß weltweit keine Gestalt literarischen Ursprungs so bekannt ist wie das Personal aus der Nibelungendichtung: Siegfried und Kriemhild, Hagen von Tronje und Volker von Alzey, der Hunnenkönig Etzel, Dietrich von Bern, und nicht zuletzt Markgraf Rüdiger und des Berners Schwertmeister Hildebrand. Hierbei tut es nichts zur Sache, daß dieser Bekanntheitsgrad sicherlich weit mehr dem wabernden Werke Wagners zu verdanken hat, als der Kenntnis der Dichtung selbst, oder auch nur ihrer ungezählten Nachdichtungen und Bearbeitungen »für unsere Jugend«.
Die Dichtung entstand um 1200 in oder bei Passau. Sie entstand nahezu zeitgleich in 2 Fassungen: der Fassung C, nach der Schlußzeile ('der Nibelunge Lied' kurz 'Lied' genannt) und der Fassung B ('der Nibelunge Not', kurz 'Not' genannt). Lange tobte unter den Gelehrten ein wilder Streit, welche Fassung als die Urform anzusehen sei; heute ist man mehrheitlich zu der Auffassung gekommen, daß die Fassung C, also 'Lied', wohl zuerst geschaffen wurde, und daß zu ihr auch der wenig bekannte 3. Teil der Dichtung gehöre: 'die Klage', während man in der Fassung B oder 'Not' eine kurz nach C entstandene Bearbeitung zu sehen habe. Hier sei der Gesamtkomplex als »Dichtung« bezeichnet und 'Lied' und 'Not' und 'Klage' jeweils dann zitiert, wenn es sich um (ihnen) spezielle Züge handelt.
Heute ist man ferner weitgehend der Auffassung, daß die Dichtung »ganz isoliert in der Literaturgeschichte der höfischen Zeit« stehe; daß die schriftliche Fassung älterer mündlicher Überlieferungen »jedoch ein isolierter Vorgang« blieb, »der zunächst keine Nachahmung fand«; daß die metrische Gestalt »eindeutig von der mündlichen Dichtungstradition geprägt« sei und daß sich dadurch »die Dichtung äußerlich von der höfischen Epik abhebt«; und schließlich, daß sie »nicht wie ein höfisches Epos interpretiert werden« kann (Joachim Bumke). Diese so einmalige Dichtung hat auf andere Dichtungen des 13. bis 15. Jahrhunderts starke inhaltliche wie sprachliche Auswirkungen gehabt: so schließt sich ihr z.B. nach und nach der weite Sagenkranz um Dietrich von Bern an. Eine letzte Abschrift stammt aus dem Beginn des 16. Jh.s. Dann erstirbt die Tradition.
Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß etwa Hans Sachs 1557 seine Tragödie 'Der hürnen Sewfrid' schrieb: denn er bezog sich ganz eindeutig nicht auf die Tradition der Passauer Dichtung, sondern auf eine neben dieser stehende Tradition, die in der »Volksdichtung« vom hörnenen Siegfried und den sogenannten Volksbüchern dieses Titels greifbar wird.
Erst 1755 wird die Passauer Dichtung wieder entdeckt und 1757 in einem ersten Teildruck zugänglich gemacht. Die erste vollständige Ausgabe erschien 1782, die erste literarische Würdigung erarbeitete 1802/03 August Wilhelm Schlegel. Und die nationale Bewegung, die im Kampf gegen Napoleon entstand, bemächtigte sich ab 1810 der Dichtung und machte aus ihr »das deutsche Nationalepos«. Bereits zum I. Weltkrieg spielten Begriffe wie »Nibelungentreue« und »Siegfried-Linie« ihre unheimliche Rolle, die dann in jener grausigen Perversion einer Rede Görings zum Untergang der deutschen Armeen vor Stalingrad endete, den er am 3. Februar 1943 als neuen Kampf der Nibelungen »in einer Halle von Feuer und Brand« bezeichnete.
Wohl nie hat eine Dichtung solche Auswirkungen in allen Bereichen der Wissenschaft und der übrigen Künste und in der Politik gehabt wie die Nibelungendichtung. An ihrer Interpretation entwickelte sich die Wissenschaft von der Germanistik (und ist bis heute viele der ihr damals inokulierten Nibelungen-Deutungen nicht mehr losgeworden). Sie befruchtete Dichter und Schriftsteller, Maler und Bildhauer, und nicht zuletzt die Musik, wie Wagners 'Ring der Nibelungen' dramatisch beweist.
Eigentümlich ist nun, daß schon ihr Wiederentdecker, der Arzt Jacob Hermann Obereit, sie in einer ersten Beschreibung als ein »weitläufig Heldengedicht ... von der burgondischen Königin oder Princessin Chriemhild« bezeichnete, womit vom ersten Tag an die Frage der Historizität der in der Dichtung beschriebenen Vorgänge angeschnitten war. Und diese Frage hat bis heute unendlich viel mehr Gelehrtenschweiß gefordert, als wenn man sich an die (spätere) Forderung des großen alten J.R.R. Tolkien (des Professors für Altenglisch und Erfinders der »Hobbits«) gehalten hätte: eine Dichtung wie den 'Beowulf' zunächst als Dichtung und dann erst als Ort möglicher anderer Tradierungen zu betrachten.
Doch hatte bereits Obereit die Jagd eröffnet, und das Wild hieß: Wer waren die Nibelungen?
Das Passauer Bild der Nibelungen
Hier sei ein kurzer Inhaltsaufriß eingeschoben zur Gedächtnisauffrischung. Es beginnt unsere Dichtung mit dem berühmten Vers:
uns ist in alten maeren
von helden lobebaeren
von freuden, hochgezîten,
von küener recken strîten
wunders vil geseit
von grozer arebeit,
von weinen und von klagen,
muget ir nu wunder hoeren sagen.
Und dann wird berichtet: von der burgundischen Prinzessin Kriemhild zu Worms und ihren drei Brüdern Günther, Gernot und Giselher sowie deren Vasallen, vor allen dem mit dem Königshaus in undeutlicher Beziehung stehenden finsteren Hagen von Tronje; von dem niederländischen Königssohn Siegfried, der nach abenteuerlicher und gar nicht feiner Jugend nach Worms kommt, um die schönste der Jungfrauen zu freien; von König Günthers Brautfahrt gen Island, wo es mit Betrügereien aller Art gelingt, Brünhild (die eine undeutliche Beziehung mit Siegfried verbindet) für Günther zu erwerben; von Siegfrieds Eheschließung mit Kriemhild, ihrer gemeinsamen Rückkehr in sein Reich der Niederlande, dem dortigen Glück; zugleich aber auch von Hagens Machenschaften, sie wieder nach Worms zu ziehen, um so vielleicht Hand auf den Nibelungenhort legen zu können; von jener tragischen Wormsreise, in deren Verlauf es zwischen Kriemhild und Brünhild zur berühmten Auseinandersetzung vor dem Dom zu Worms kommt, deren Ende die Ermordung Siegfrieds durch Hagen ist.
Im 2. Teil wird berichtet, wie Kriemhild, durch Hagen um Gatten und Hort gebracht, Frau des verwitweten Hunnenkönigs Etzel wird und diesen dazu bewegt, ihre Verwandten einzuladen, damit sie Gelegenheit finde, am verhaßten Hagen Rache zu nehmen; es wird die Reise der jetzt plötzlich Nibelungen genannten Burgunder von Worms an den hunnischen Hof wunderbar erzählt; dann wie Kriemhild im Rachebegehren gegen Hagen, der sie auch noch verspottet, die Helden beider Seiten zum Streit gegeneinander aufreizt, der in sich immer steigernden Aktionen und Ausweitungen zum blutigsten Gemetzel und zum Untergang der Burgunder/Nibelungen führt, einschließlich Kriemhilds selbst.
Und dann folgt in den meisten alten Handschriften ein sehr viel weniger bekannter, aber noch rätselvollerer 3. Teil, die 'Klage', in der die Dichtung gewissermaßen kommentiert wird, indem die Getöteten beklagt und die weiteren Geschicke der Überlebenden geschildert werden. Ein höchst ungewöhnlicher Vorgang an sich schon, und noch ungewöhnlicher durch manche Formulierung in ihm, wie die Feststellung: zum Ende des Königs Etzels wisse sie nichts zu sagen (die 'Klage' nämlich):
weder er sich vergienge
oder in der Luft enpfienge
oder lebende würde begraben
oder zum himele uferhaben
(ob er sich verirrte)
(oder in der Luft zerflirrte)
(oder lebendig wurde begraben)
(oder zum Himmel emporgetragen)
Mit dieser dunklen Endung der 'Klage', vor allem aber mit der Zeilen rätselvollster »oder lebendig wurde begraben« sind wir nun wirklich inmitten der Rätselwelt der Dichtung, von denen jetzt einige aufgezeigt seien, so Rätsel wie Ungereimtheiten.
Hier fällt als erstes wiederum die schon erwähnte Frage ins Auge: Warum entstand zuerst die Fassung C, dann die Fassung B, und dann - wie ein nachträglicher Kommentar zu C gegen B - die 'Klage'? Daß die Fassung C, das 'Lied', als die älteste Fassung anzusehen ist, ergibt sich daraus, daß in der Fassung B unerklärliche Widersprüche stehen, die am ehesten zu verstehen sind, wenn man sie als stehengebliebene und unverarbeitete Reststücke aus C ansieht; umgekehrt funktioniert das Verfahren nicht. Und an der Zugehörigkeit der 'Klage' zum 'Lied' zweifelt niemand.
Der wesentliche inhaltliche Unterschied beider Fassungen ist nun der:
In der Fassung 'Lied' wird das Bild Kriemhilds durchgehend freundlich und liebevoll gezeichnet, das Bild eines Mädchens, einer jungen Frau, die durch vielfältige Vorgänge in ein Geweb von Zwängen gerät, das sie nicht mehr losläßt bis hin zum furchtbaren Ende: und doch wollte sie nie anderes, als sich an Hagen zu rächen, der als der finsterste aller denkbaren Schurken gezeichnet ist von Anbeginn bis Schluß, ein Lügner und Betrüger und Meuchelmörder, dem aus unerfindlichen Gründen nur eines wichtig ist: durch seine bedingungslose Loyalität seine Herren, die Burgunderfürsten, zu vernichten (und dessen einzige wirklich bewunderungswürdige Tat - neben der Anerkennung des »Spielmanns« Volker von Alzey in letzter Sekunde - die ist, gegen Rüdiger das Schwert aus Freundschaft nicht zu heben, wodurch zugleich der endgültige Verrat an seinen Herren erfolgt - war es also vielleicht doch keine Tat der Freundschaft, sondern bewußter Verrat im Gewand der Freundschaft?); und so entspricht das Bild Hagens auch dem in der 'Klage', die sich also auf das 'Lied' bezieht.
In der Fassung 'Not' hingegen sieht das alles ganz anders aus: da ist Hagen ein zwar grimmer und düsterer, aber doch im wesentlichen ritterlicher Mann, während Kriemhild von allem Anfang an als die Betrügerische, Wertlose, auch als Hausfrau Unfähige gezeichnet wird, die nicht einmal davor zurückschreckt, um endlich ihrer Rache Genüge tun zu können, ihr Söhnchen Ortlieb (von König Etzel gezeugt) hinmetzeln zu lassen ohne allen Anlaß, auf daß endlich die Wut aller den für ihre Zwecke nötigen Hitzegrad erreiche. (Im 'Lied' ist es Hagen, der Ortlieb von sich aus und aus ähnlichen, aber anders gelagerten Gründen mit dem gleichen Ergebnis ohne ersichtlichen Anlaß hinschlachtet).
Während also in der Fassung 'Lied' Kriemhild eine helle, wenn auch tragische Gestalt ist, der Hagen Tronje als das elementar böse Verhängnis unerkennbaren Ursprungs alles vernichtend gegenübersteht, ist in der Folgefassung 'Not' aus dem elementar Bösen ein düsterer Schicksalsritter geworden, den die giftspeiende Megäre Kriemhild zunebst allen anderen in den Tod hetzt.
Das alles läßt sich wohl nur so verstehen, daß dem maßgeblichen Publikum die Originalfassung 'Lied' bald nicht mehr zusagte, wenn es sie denn überhaupt je goûtierte, und daß es schleunigst eine revidierte Fassung erarbeiten ließ, in der die Akzente völlig umgekehrt gesetzt sind. Höchst eigenartig!
Die Rätsel in 'Lied' und 'Not'
Es ist unmöglich, den ganzen riesigen Bereich an Widersprüchen aufzulisten, den die Forschung inzwischen festgestellt hat. Einige besonders deutliche Beispiele müssen genügen:
- jenes flüchtige Burgunderreich unter König Gundahar, das ohne Mitwirkung Attila/Etzels 437 von den Hunnen vernichtet wurde, befand sich nicht bei Worms, wo überhaupt historisch die Burgunder nicht nachzuweisen sind;
- Attila/Etzel starb 453; Theoderich der Große, den man immer noch verzweifelt mit Dietrich von Bern identifizieren will, wurde erst 456 geboren: Wie also kam der Hunnenkönig, wie der ganze Ungarnbereich (der Zustände um 1000 schildert) in die Dichtung?
- Theoderich hatte mit Bern/Verona nichts zu tun, wohl aber mit Ravenna (»Rabenschlacht«), und wurde nicht von Odoaker/Ermenrich geschlagen/vertrieben, sondern besiegte Odoaker: Wieso aber dieser Skire nun plötzlich zum fernen Vorfahr Theoderichs, zu Ermenrich, umgedichtet wurde, ist ebenso unerfindlich;
- warum werden die im 1. Teil der Dichtung durchgehend Burgunder genannten Wormser im 2. Teil plötzlich ebenso durchgehend Nibelungen genannt: nur weil Siegfried in seiner Jugend den Schatz des Nibelung höchst unfein an sich brachte, den Hagen dann ebenso unfein in den Rhein kippte?
- da sind die »Schneiderstrophen«, Dutzende von Strophen, in denen höchst kenntnisreich Nachricht darüber gegeben wird, wie die Damen ihre Helden benähen, Strophen aus Braut- und Frauentruhe, aus Näh- und Kleiderkammer mit Fachvokabular, das Wirtschaftshistoriker inzwischen zur Verblüffung vieler Germanisten als zutreffend und zeitgerecht nachgewiesen haben;
- hingegen erweist sich der Dichter dieses Heldenepos auf eigenartige Weise ungebildet in allen Bezeichnungen und Beschreibungen von Buhurt und ritterbürtiger Metzelei, von waidgerechter Jagd und der Behandlung des wichtigsten Freundes eines Ritters, des Pferdes; - und wie ist Volker der Spielmann, der Fiedler aus Alzey, in die Dichtung geraten, in der er dramaturgisch nichts verloren hat (seine Funktion könnte mühelos einer der Wormser Könige mit übernehmen): und dennoch wird er im 2. Teil zu einer der bedeutendsten Gestalten, und zur einzigen noblen Figur der Burgunder/Nibelungen?
- und wer ist Hagen, der finstere Verräter, der seine Wormser Herrschaft erbarmungslos in den Tod führt? Und warum befolgt man seinen unguten Rat immer wieder?
- und woher kam Siegfried? Und was verband ihn aus der Vorgeschichte mit Brünhild?
Germanistische Nicht-Antworten
Natürlich kennen die Germanisten all diese Fragen und haben sich immer wieder redlich und verzweifelt bemüht, Antworten zu finden, die ihr etabliertes Bild von den Nibelungen und der Passauer Dichtung nicht in Gefahr bringen. Insbesondere hat man die kompliziertesten Stammbäume konstruiert, aus denen die Passauer Dichtung entstanden sein soll - mit dem einzigen Nachteil, daß keine der so geistvoll rekonstruierten Vorformen irgendwo je belegbar geworden wären. Im Gegenteil: je komplizierter das System der Vorformen im Laufe der Jahrzehnte wurde, desto höher türmten sich die Gebirge immer neuer Widersprüche und Ungereimtheiten. Sollten denn tatsächlich jene Exegeten recht haben, die ihre Flucht aus dem Gewirr der Rätsel in der verzweifelten Formel suchen: es sei der Dichter ein völlig ungebildeter, klerikaler, hochbegabter Poet mit keinerlei geschichtlichen und Sach-Kenntnissen gewesen?
Wer nun versucht, in kommentierten zweisprachigen Textausgaben selbst ein Bild zu gewinnen, der stößt auf weitere Merkwürdigkeiten der germanistischsten Art. Ich will auch davon einige aufzeigen und benutze dazu Brackerts Ausgabe der Fassung 'Not' und Genzmers Ausgabe der Fassung 'Lied'.
1. Bei Brackert wird Vers 688 »Sîfrit der herre ûzer Niderlant«, der zu Worms bei seiner Ankunft alles verschenkt, was er und seine Mannen »ze Rîne brâhten« völlig unkommentiert gelassen: obwohl die Formel, er habe an den Rhein mitgebracht, angesichts der Tatsache, daß er angeblich aus Xanten am Rhein kam, einigermaßen seltsam anmutet. In Vers 711 gab »man hie den helden«, woraus bei Brackert wird »hier in Xanten schenkte man den Helden« - ist »hie« wirklich Xanten? Und in Vers 734 beauftragt König Günther seine Boten, »al daz ich dar enbiete« auszurichten; woraus Brackert wieder macht »nach Xanten melden lasse« - ist »dar« wirklich Xanten, und nicht »dorthin«, wo immer das sein mag? Mit anderen Worten: allein die Vorstellung, es handele sich um Xanten und Worms, bringt Brackert dazu, unklare Stellen schlicht falsch aber eindeutig zu übersetzen. (Karl Simrock hat sich vor solchen Identifikationen noch wohlweislich gehütet.)
2. König Günthers Boten, die Siegfried an den Hof der Burgonden einladen sollen, reiten in Vers 742 »den Rhein abwärts«, bis sie Siegfried in Vers 739 »In Norwegen an der Grenze« antreffen, »ze Norwaege in der Marke«! Und kein Wort des Kommentars, weshalb bzw. wie man von Worms aus beim Ritt rheinab an die Grenzen Norwegens geraten kann. Wie aber, wenn Heinz Gropp recht hätte, der angeregt hat, so nachzudenken: wer von Worms rheinab in Richtung niederländisches Reich Siegfrieds reitet, der passiert die »Norv waegen in der marke«: die uralten Straßen in dem uralten Grenzland bei Norf nahe Düsseldorf? Jenes Grenzland zwischen rheinischen und westfälischen Landen?
3. Prinz Giselher bemüht sich, Kriemhild zur Annahme der Werbung Etzels zu bereden und sagt (Brackert Vers 1244): »von dem Róten zu dem Rîne, von der Elbe unz an daz mer, sô ist künec deheiner sô gewaltec niht« - laut Brackert »Von der Rhône bis zum Rheine, von der Elbe bis zum Meer ist kein König gewaltiger« als Etzel, der sie also für alles Leid entschädigen könne (Genzmer übersetzt Vers 1274 geographisch erheblich vorsichtiger: »Vom Rotten bis zum Rheine und weiter bis zum Meer gibt es ihrer keinen, der solcher Herrschaft wert«). Brackerts Übersetzung ist, betrachtet man sich die Landkarte, absoluter Unsinn: zwischen Rhône und Rhein gibt es kein Herrschaftsgebiet (außer dem Glarner Alpengletscherland), und wo sieht Brackert Herrschaftsgebiet des mächtigsten Fürsten zwischen Elbe und Meer? Und das Ganze als Vergleich mit Etzels Reich? Heinz Gropp schlägt hier vor: da es von »Rodanus« über »Róten« zur Rhône sprachlich nicht weiter ist als vom »Róten« zur Rhön, machte es geographisch sehr viel annehmbareren Sinn, den Vers so zu lesen: »Von der Rhön bis an den Rhein, von der Elbe bis zum (atlantischen) Meer«. Womit zwar immer noch nicht klar ist, was das mit dem Hunnenkönig Etzel in Ungarn zu tun haben soll, aber doch zumindest eine geographisch verständliche Lösung gefunden ist. Außerdem paßt das nicht schlecht zu den Straßen in Norfs Grenzbereich.
4. In Vers 1539 (Brackert) spricht die Wasserfrau Hagen mit den eigenartigen Worten an: »Ich will Dich warnen, Hagen, Sohn Aldrians.« (Genzmer] Vers 1581). Wieso ist Hagen der Sohn Aldrians (der Name fällt in der ganzen Dichtung sonst nie), und wer war Aldrian? Die Germanisten schweigen. Wohl aber findet sich in der Thidrekssaga eine ganze lange Geschichte darüber, wie König Aldrian ein König bei Rheine war, und wie seine Frau einst weintrunken im Garten von einem Fremden schwanger wurde, davon der Knabe Hagen kam, und wie Hagen auf dem Sterbelager durch Dietrich/Thidrek als letzte Liebestat noch eine Jungfrau beigesellt wurde, die von ihm eines Knaben genas, den sie nach Hagens Wunsch Aldrian nannte, und wie Aldrian später seinen Vater an Attila/EtzelAtala rächte, indem er ihn in einem Berg mit Siegfrieds Goldschatz einmauerte. (Wie hieß es in der 'Klage'? Daß niemand vom Ende Attilas wisse, »ob er sich verirrte ... oder lebendig wurde begraben«?)
5. In Vers 1699 (Brackert) erbittet sich Hagen den Schild des Nudung, den Wittich erschlagen hatte; Brackert merkt an: »Daß Nudung von Witege erschlagen worden ist, wissen wir aus der Dietrich- Sage. Näheres über das Verwandtschaftsverhältnis wird uns weder dort noch hier mitgeteilt.« Anders Genzmer zu seinem Vers 1746: »Hier wird auf die Sage von Nudung, Rüdegers und Gotelinds Sohn, angespielt, der von Wittich in der Rabenschlacht erschlagen worden war.« Tatsächlich steht aber in der Thidrekssaga (wo man auch die Geschichte des Königs Aldrian, des Nicht-Vaters von Hagen und des Vaters von Kriemhild, Gunter, Gernot und Giselher findet) in der Ausgabe der Sammlung Thule S. 393, daß Herzog Naudung der Bruder von der Markgräfin Gudelinda gewesen sei. Wieso findet Brackert in der Dietrich-Sage, daß Nudung von Witege erschlagen wurde, aber nichts über die wenige Zeilen später stehenden Verwandtschaftsverhältnisse? Wieso entdeckt Genzmer, daß es sich bei Nudung um Gotelinds Sohn handelt, wenn doch die Thidrekssaga eindeutig von ihrem Bruder spricht? Und wieso darf man die Thidrekssaga hier zur (falschen und unvollständigen) Erklärung heranziehen, nicht aber zur Erklärung des Namens Aldrian? Höchst sonderbar!