KATAPULT Magazin / 1. August 2017
Staaten, die es nicht gibt
Wann ist ein Staat ein Staat?
Was ist ein Staat? Aus juristischer Sicht spielen Wertungen zum Charakter des Staates eine untergeordnete Rolle. Ob es sich bei einem Gebiet um einen Staat handelt, richtet sich vielmehr nach dem
Faktischen. Georg Jellinek bezeichnete ihn daher relativ lapidar als
»eine mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit sesshafter Menschen.«
Man spricht demgemäß von der Drei-Elemente-Lehre:
Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt
In den 1960er Jahren hatte ein Major der britischen Armee eine im Zuge des Zweiten Weltkriegs errichtete Militärplattform in Beschlag genommen, um darauf einen illegalen Radiosender zu errichten. 1967 rief er dort einen Staat aus, inklusive Flagge und Nationalhymne
Grenziehung ist nebensächlich
Für das Vorhandensein eines Staatsgebiets braucht es
keine allgemein oder von den Nachbarstaaten
anerkannten Grenzziehungen. Zentral ist das Vorliegen eines
Kerngebiets.
Grenzstreitigkeiten ändern
nichts an der Eigenschaft als Staat. Zugleich muss das Staatsgebiet allerdings
natürlichen Ursprungs sein. Ein damit zusammenhängender und in der Lehre des Völkerrechts beliebter Fall betrifft das
»Fürstentum Sealand«:
In den 1960er Jahren hatte ein Major der britischen Armee eine im Zuge des Zweiten Weltkriegs errichtete Militärplattform in Beschlag genommen, um darauf einen illegalen Radiosender zu errichten. 1967 rief er dort einen Staat aus, inklusive Flagge und Nationalhymne.
Die
tatsächliche Staatseigenschaft beschäftigte 1978 das Verwaltungsgericht Köln, nachdem ein
deutscher Staatsbürger aufgrund seiner Eigenschaft als Staatsbürger und Außenminister
Sealands die Befreiung von Sozialabgaben und Steuern gefordert hatte. Das Verwaltungsgericht wies die Klage ab, da es sich bei
Sealand unter anderem allein deshalb
nicht um einen
Staat handle, weil es sich auf einer
künstlich errichteten Plattform befindet.
Wer ist das Volk?
Das Kriterium des Staatsvolks ist freilich ein oft emotionalisierter Begriff. Es verlangt zumindest die dauerhafte Präsenz von Menschen innerhalb des Staatsgebiets, um den Staat von Nomadenvölkern abzugrenzen. Darüber hinaus äußerte sich das
Verwaltungsgericht Köln im Sealand-Fall auch zu diesem Kriterium.
Es sprach davon, dass das Staatsvolk »nicht nur ein loser Zusammenschluss zwecks Förderung gemeinsamer Hobbies und Interessen«, sondern vielmehr »eine im wesentlichen ständige Form des Zusammenlebens im Sinne einer Schicksalsgemeinschaft« sei.
Die genaue Festlegung der Regeln zum Erwerb der Staatsangehörigkeit – und damit zusammenhängend auch heikle Fragen wie jene der Nation oder gar einer etwaigen Leitkultur – liegt aber im Ermessen des jeweiligen Staates. Bei der Ausbürgerung von Staatsbürgern sind jedoch die völkerrechtlichen Regeln zur Vermeidung von Staatenlosigkeit zu bedenken.
Souveränität – ein großes Wort
Die
Staatsgewalt meint wiederum den
Staatsapparat, also sämtliche für den Staat
hoheitlich tätigen Organe, Institutionen und sonstigen Einrichtungen. Dabei braucht es
Souveränität, die wiederum
zwei Dimensionen aufweist:
Nach
innen braucht es im Sinne Max Webers das
Gewaltmonopol. Sofern
andere bewaffnete Gruppen Teile des Staatsgebiets kontrollieren oder überhaupt
keine einigermaßen effektive Zentralregierung besteht, spricht man von einem
»failed state« oder einem
»fragile state«. Solche Staaten existieren
nur im formaljuristischen, aufgrund ihrer
fehlenden Handlungsfähigkeit jedoch nicht im faktischen Sinne. Ein typisches Beispiel ist
Somalia seit dem Ausbruch des dortigen Konflikts in den frühen 1990er Jahren.
Nach
außen hin meint
Souveränität die weitgehende Unabhängigkeit von anderen Staaten. Sogenannte
Marionettenstaaten, wie etwa das nach der Invasion der Mandschurei von Japan geschaffene Mandschukuo, sind daher keine Staaten. Gleichzeitig hat sich das Konzept der Souveränität aufgrund der Globalisierung und der Herausbildung internationaler Organisationen wie der Europäischen Union maßgeblich
verändert. Sie ist jedoch trotz wechselseitiger Abhängigkeiten und neueren Ansätzen zu
»global governance« – also der Erkenntnis, dass weltumspannende Probleme eine gemeinsame Lösung verlangen – alles andere als überflüssig. Hinzu kommt, dass zahlreiche Staaten, wie insbesondere die
USA, China oder
Russland, nach wie vor ein
restriktives Souveränitätsverständnis vertreten.
Ein totalitäres, von einer Einzelperson oder einer kleinen Führungsclique geführtes und unterdrückerisches Regime ist ebenso ein Staat wie eine »Vorzeigedemokratie«
Demokratie und Menschenrechte
Die
Staatseigenschaft ist an
keine gesonderte
Staatsqualität geknüpft – sei es eine bestimmte Verfassungsform oder die Einhaltung der Menschenrechte. Ein
totalitäres, von einer Einzelperson oder einer kleinen Führungsclique geführtes und unterdrückerisches Regime ist ebenso ein Staat wie eine
»Vorzeigedemokratie«.
Mehr noch, aufgrund des Prinzips der souveränen Gleichheit stehen alle Staaten grundsätzlich auf derselben Stufe. Die in den klassischen Völkerrechtslehrbüchern des 19. Jahrhunderts vorgenommene Unterscheidung in zivilisierte, semizivilisierte und nicht zivilisierte Staaten beziehungsweise Völker ist heute nicht mehr gültig.
Es handelt sich vielmehr primär um eine
politische, keine
juristische Kategorie.
[Links nur für registrierte Nutzer]