FAZ / 27.02.2016 / von Joerg Niendorf
U-Boot Lula 1000
Auf der Suche nach dem Riesenkalmar
Eine Fahrt im U-Boot bis in einen Kilometer Tiefe: Die Lula 1000 ist gebaut wie eine große Unterwasserkamera. Sie soll dort unten einen Riesenkalmar filmen.
Tauchkapsel für tiefe Gewässer:
Der Druckkörper der Kapsel ist aus Edelstahl gefertigt, das Kameraauge mit großem Blickwinkel aus Plexiglas
Immer nachmittags kommen die Wale. Das sehen die Einwohner des Dorfs Santa Cruz auf der Azoreninsel Pico vom Küchenfenster aus. Oft ist es eine ganze Schule von Walen. Eine Menge Tiere, nah unter Land. Der atlantische Ozean fällt vor Pico jäh ab, das Meer ist unweit der Küste schon 1000 Meter tief. Dort tauchen und fressen die Pottwale dann. Ein majestätisches Bild. Irgendetwas, heißt es unter den Einheimischen, müsse da unten sein, wenn so viele Tieren herkommen.
Deshalb ist jetzt die
„Lula 1000“ zur Stelle, ein
knallgelbes Unterseeboot. Es ist mit seinem Trägerschiff von der Nachbarinsel Faial gekommen, seinem Heimathafen. Nun wird die Lula der Sache auf den Grund gehen, die Mannschaft will filmen. Bis 1000 Meter kann sie tauchen, bis in die tiefe, immerwährende Nacht unter Wasser. Bis in jene Gefilde, von denen man bis heute wenig weiß. Allein das macht dieses kleine Boot von 7,5 Meter Länge, das leise in der Atlantikdünung schaukelt, zur Besonderheit.
Nur zehn solcher „Bathyskaphe“, Tiefseeschiffe, gibt es auf der Welt. Ein ungeheurer Druck, stark wie das Gewicht von zig Jumbojets, lastet bei 1000 Meter oder mehr auf einer Tauchkapsel. Die Lula ist sogar einzigartig, wie eine überdimensionierte Kamera ihrem Zweck ganz und gar angepasst.
Zwei Forscher sitzen gleichsam im Objektiv, schauen durch eine Sichtkuppel hinaus und nehmen mit ihren Digitalkameras auf, was vor und neben ihnen, wie auf einer Bühne, auftaucht.
Sie filmen in 4k-Auflösung, also in allerfeinster Bildqualität. Ausgeleuchtet wird die Welt da draußen von einer Scheinwerferanlage, die sie stufenweise hochfahren können bis zur Filmstudio-Stärke. Nur mit den Leuchten kann man überhaupt etwas sehen. Denn von 200 Meter Tiefe an herrscht Zwielicht, ab 500, 600 Meter ist es dunkel. Spätestens bei 900 Meter ist alles schwarz. Die Lula könnte sogar bis 1400 Meter Tiefe tauchen, darf aber nur 1000 Meter. So weit reicht die Zulassung des Germanischen Lloyd.
Der Tauchgang an diesem Tag wird vier bis fünf Stunden dauern, wie die beiden deutschen Forscher Kirsten und Joachim Jakobsen ankündigen. Seit mehr als zwei Jahren gehen sie mit dem Boot im Seegebiet der Azoren auf Tauchfahrt. Davor hatten sie ein kleineres, das bis 500 Meter tauchen konnte. Lula heißt auf Portugiesisch Kalmar. Der Name Lula 1000 ist eine eindeutige Botschaft. Das Ehepaar Jakobsen will in 1000 Meter Tiefe den Riesenkalmar finden, ihn wollen sie filmen. Es gibt diese Tintenfische in großer Tiefe, doch bisher kaum Aufnahmen von lebenden Exemplaren. Sie können zehn Meter lang werden. Früher galten sie als Tiefseemonster. Heute weiß man, dass sie von Pottwalen gefressen werden. Die Jakobsens zieht es also immer dorthin, wo Pottwale sind.
Wie ein Schwiegermuttersitz
Als Letzter geht Joachim Jakobsen an Bord. Das gelbe Oberschiff ist der Schwimmkörper, er hält das Boot vor und nach dem Tauchen über Wasser. Durch die enge Einstiegsluke steigt Jakobsen hinab in den Druckkörper, verriegelt das Schott. Er und seine Frau arbeiten eine lange Checkliste ab, kontrollieren Schalter und Anzeigen. Mittlerweile sind sie exakt 72 Mal mit der Lula 1000 getaucht, jedes Mal an einer anderen Stelle. Selbst in den Wintermonaten sind sie alle paar Wochen draußen, wenn es nicht stürmt. Auch jetzt ist die See ruhig. Das Trägerschiff liegt in der Nähe, es wird selbst unter Wasser eine Funkverbindung geben.
Die Checks sind beendet. Einziges Vorkommnis bisher: Diesmal ist ein Gast an Bord. Für solche Fälle gibt es eine dritte kleine Sitzschale, mittig hinter den beiden Piloten. Wie ein Schwiegermuttersitz in ganz alten Autos. Dann sinken wir, 20 Meter in der Minute. Sind die Tauchzellen geöffnet, strömt genau so viel Wasser hinein, dass diese Geschwindigkeit erreicht wird. Presst man später Druckluft in die Zellen, „bläst man sie an“, wie es heißt, geht es im gleichen gemächlichen Tempo wieder hinauf. So gibt es auf der Fahrt immer genug Zeit zum Schauen. In fünf Minuten macht das 100, in 50 Minuten 1000 Meter.
Wir schweben in einem dichten Treiben von Luftbläschen, senkrecht geht es in der Wassersäule abwärts. Bald verlieren sich aber die Bläschen. Ein erster, gold und blau glänzender Degenfisch kommt von links ins Bild, wie in Zeitlupe. Solch ein Fisch schwimmt lotrecht, er steht wie eine Klinge im Wasser. Das rote Zählwerk der großen Videokamera, die Kirsten Jakobsen an ihrem Platz in der Kuppel bedient, schnurrt unterdessen. Vom Start an ist die Videoaufzeichnung eingeschaltet, sicherheitshalber. Für das Bildarchiv der Lula. Den Degenfisch verfolgt Kirsten Jakobsen aber nicht extra mit der Kamera. Degenfische haben sie schon tausendmal.
15.000 Arbeitsstunden stecken darin
Der Kompass verrät, dass sich das U-Boot beim Sinken langsam um die eigene Achse dreht. Wir trudeln. Das sei doch gut, sagt Joachim Jakobsen. „So bekommt man aus allen Richtungen etwas mit.“ Möglichst viel sehen zu können, das hatte ihn bereits bei der
Konstruktionsarbeit für das U-Boot angetrieben.
Jakobsen hat es selbst entworfen,
15.000 Arbeitsstunden stecken darin.
Er hatte den Plan, den Druckkörper in Form eines Tanks zu bauen und an die Stirnseite eine gläserne Kuppel zu montieren. Wie in einer Helikopterkanzel könnte man darin sitzen. Jakobsen traf bald auf den
deutschen Hersteller von Plexiglas,
Evonik. Die Aufgabe reizte das Unternehmen, schien erst sogar gewagt. Aber es ging. Das Ergebnis war das erhoffte „Auge“, genaugenommen ein Froschauge: Die druckresistente Kanzel aus Plexiglas bietet ein Sichtfeld von 150 Grad. Auch die kleine Kuppel an der Einstiegsluke der Lula ist aus Plexiglas.
Der
Druckkörper aus Edelstahl wurde ebenfalls in
Deutschland hergestellt, wie die meisten anderen Bauteile auch, wie zum Beispiel die Hülle aus Hartschaum. Sämtliche Tests in einer Tauchkammer fanden noch in
Deutschland statt, dann ließ Jakobsen alles auf die Azoren schaffen, wo er sein Bathyskaph zusammenbaute. Bis heute verbessert er es. Vor kurzem bekam die Lula einen Sedimentsauger. Am ferngesteuerten Greifarm, der außen unter der Kuppel angebracht ist, sind nun auch zwei Schläuche, durch die man Bodenproben nehmen kann. Ein befreundeter Ingenieur half, den Greifarm auszutüfteln.
Der Tiefenmesser zeigt jetzt 619 Meter an
Jakobsen, Ende fünfzig, hat sein Leben mit U-Booten und auf See verbracht. Bei einem Pionier der Unterwasser-Filmtechnik, Dimitri Rebikoff (1921-1997), lernte er, schon Jakobsens Vater arbeitete für ihn. Heute finanziert unter anderem die Stiftung Rebikoff-Niggeler, benannt nach dem Erfinder und dessen vermögender Ehefrau Ada Niggeler, die Tauchfahrten der Lula. Das Unternehmen Evonik unterstützt die Expeditionen weiterhin. An mehrere Universitäten meldet das Forscherpaar seine Entdeckungen. Alles sei doch neu, sagt Kirsten Jakobsen, während sie die Kamera auf einen kleinen Kalmar, vielleicht 40 Zentimeter lang, schwenkt. Der Tiefenmesser zeigt jetzt 619 Meter an. Einen Tanz vollführt der Tintenfisch, schwenkt die Tentakel. Sie folgt ihm.
Wie die meisten Vertreter dieser Unterwelt kam auch er von sich aus ins Licht der Lula, neugierig. Gestochen scharf sieht man ihn durch die Scheibe, kann ihm direkt ins Auge blicken. Ans Meeresmuseum in Stralsund werden diese Bilder später gehen. Für die Regierung der Azoren dokumentieren die Forscher außerdem Riffe hier unten. Und immer wieder wollen Fernsehteams, soeben von der BBC, hinab. Die zahlen viel dafür. Doch irgendwann, das stehe fest, würden sie den eigenen Tiefsee-Kinofilm machen, kündigt das Forscherpaar an.
So geschmeidig der Kalmar vor der Scheibe tänzelt, so sanft folgt ihm das U-Boot. Dafür hat es vier Strahlruder zum Manövrieren, zwei laterale und zwei vertikale. Außerdem gibt es einen Heckantrieb. Die Elektromotoren steuert Jakobsen mit einer Hand am Joystick, während seine Frau zoomt und fokussiert. Steht ein Fisch im Rampenlicht, spielt der Ehemann wiederum den Beleuchter. Bis zu vier HMI-Tageslichtscheinwerfer kann er einschalten, je nach Bedarf. Jeder einzelne lässt sich boosten auf plus 50 Prozent. Die Fische nehmen’s gelassen. Schade ist nur, dass ihnen das leichte Brummen der Seitenstrahlruder irgendwann wohl doch zu viel wird. Oder es ist die leichte Strömung, die entsteht, sobald die Lula ihre Position korrigiert. Mit einem hektischen Flossenschlag entwischen die Tiere dann ins Off. Aber leer bleibt die Bühne selten. Es herrscht zwar bei weitem kein Gewimmel in dieser Tiefe. Doch irgendein Tintenfisch, eine Staatsqualle, ein Hai kommt immer vorbei.
Haie, sehr wohl. Und sehr viele. Stoisch langsam ziehen sie ganz unten, auf 1020 Meter, durchs Bild. Es sind schlanke, hellgraue Vertreter ihrer Art. Gar nicht sonderlich groß, schon gar nicht bedrohlich. Sie wirken eher schläfrig in ihren Bewegungen. So viele auf einmal sehen die Forscher der Lula aber selten, sagen sie. Nur sieben Grad Celsius hat das Wasser am sandigen Grund beim Tauchgang an diesem Tag. Das ist ein Grad weniger als Jakobsens es sonst erleben. Zudem gebe es hier viel mehr Schwebstoffe im Wasser als woanders, wie Schlieren hängen sie im Bild. Ob das etwas erklärt, also darüber, warum so viele Wale herkommen? Es bleibt ungewiss. Sicher ist erst einmal nur, dass das gewaltige Bildarchiv wieder um Stunden gewachsen ist.
Auf der Fahrt hinauf begleiten die Lula noch viele kleine Kalmare. Ärgern sie sich zu sehr über ein Strahlruder, feuern sie eine Ladung Tinte hinaus. Bernsteinfarben, auch sehr schlierig. Einmal gerieten Kirsten und Joachim Jakobsen sogar in eine gigantisch große Tintenwolke. Das ist etwas her, auf einer der ersten Fahrten mit der Lula 1000. Sieben Meter hoch war die Wolke, vier Meter breit. Und sie mittendrin. Das muss er gewesen sein, der Riesenkalmar. Es gibt ihn hier. Sie müssen nur Geduld haben.
Quelle: F.A.S.
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