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Thema: In Memoriam Gartenschläger

  1. #1
    GESPERRT
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    Standard In Memoriam Gartenschläger

    Erinnerung
    Am Tag, als Michael Gartenschläger starb
    Das Leben und der Tod eines Helden der Freiheit

    Aus EF.....Danke

    Am 30. April 1976, einem Freitag, verteidigte Box-Weltmeister Muhammad Ali seinen Titel gegen Jimmy Young im Schwergewicht. Der äußerst umstrittene Kampf, der nicht durch k. o., sondern durch Punkte entschieden werden sollte, sorgte noch tagelang für Kontroversen. Am 30. April 1976, einem Freitag, wurde Victor H. Glover in der sonnigen kalifornischen Stadt Pomona geboren. Ein Afroamerikaner, der 2012 den ersten regulären Flug des SpaceX Crew Dragons zur internationalen Raumstation ISS durchführen sollte.

    Am 30. April 1976, einem Freitag, starb, gerade 32 Jahre alt, Michael Gartenschläger nach einem Schusswechsel im Sicherungsabschnitt der zwölften Grenzkompanie Leisterförde.

    Strausberg ist in den 50ern sicher einer der idyllischsten Orte im Umkreis von Berlin, angeschmiegt an einen fast vier Kilometer langen See, der den Namen der Stadt teilt. Hier kommt im Januar 1944 Michael Gartenschläger in einer zumindest nach außen hin unpolitischen Familie zur Welt. Der Junge hat wuscheliges Haar, ausgeprägte Wangenknochen und etwas abstehende Ohren, die ihm insgesamt einen ungemeinen Lausbubencharme verleihen.

    Das Land aber, in das er hineingeboren wird, ist kein Land für Lausbuben. Hier können selbst schon Witze über den Genossen Staatsratsvorsitzenden Karrieren beenden und Leben zerstören. Doch der junge Gartenschläger ist ein Rebell im Herzen und schaut geringschätzig auf die erzwungene rote Kleinbürgerlichkeit des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden. Die Schule, die jeden Morgen mit dem Fahnenappell beginnt, die Thälmann-Pioniere und die blauen FDJ-Tüchlein vermögen ihm nichts zu geben. Nach der achten Klasse geht er von der Schule ab, um eine Lehre zu beginnen.

    Doch Michaels wahre Leidenschaft ist der Rock 'n' Roll, der auf Schallplatten und Funkwellen über die noch durchlässige innerdeutsche Grenze schwappt. Neben den bekannten Größen wie Elvis hat es ihm vor allem der Westberliner Ted Herold angetan, der im Radio Luxemburg Elvis auf Deutsch covert. Michael, nun Teil einer kleinen unbeugsamen Gruppe, die sich die „furchtlosen Fünf“ nennt und allerlei kleines Unheil anrichtet, findet sich wieder in Liedern wir Crazy Boy. Oft fahren die Freunde nach Westberlin und haben dort ihren kleinen Teil am American Way of Life.

    Es ist der 13. August 1961, ein regnerischer Tag, der Michaels Leben für immer verändern wird. Aus einem kleinen Kofferradio dringt die Meldung: Ein „antifaschistischer Schutzwall“ werde errichtet – die DDR sperre ihre noch nicht bereits geflohene Bevölkerung ein. Michael und seine Freunde sind empört. Die Freunde beginnen Graffitis zu pinseln: „Kommunisten raus!“, „Macht das Tor auf“ oder auch einfach: „SED nee“.

    Dann, während die Mauer sich unbeeindruckt schließt, zünden die Teenager eine freistehende Scheune an. Das Tatortfoto der Stasi wird am nächsten Tag einen undefinierbaren verkohlten Haufen zeigen. Am 19. August schließlich klopft es an die Tür, Michael wird verhaftet. Es folgen Tage, dann Wochen voller Demütigungen, Gewalt und Isolation. Am 15. September titelt schließlich die Zeitung triumphierend: „Brandts Natterngezücht wird ausgemerzt.“

    Am Folgetag wird das Urteil gegen die „konterrevolutionäre Verbrecherbande“ gefällt: lebenslänglich – und das auch nur, weil Micha und seine Freunde zu jung für die Todesstrafe sind. Es folgen dunkle Jahre in der Jugendstrafvollzugsanstalt Torgau und im Zuchthaus Brandenburg – Jahre voll kurzer Momente der Hoffnung und endloser Stunden der Verzweiflung, wenn Micha die Unentrinnbarkeit bewusst wird. Verbissen kämpft er gegen die Verzweiflung an, liest sich mit unbändigem Hunger quer durch die gesamte Gefängnisbibliothek, von Altertum bis Philosophie.

    Auf der anderen Seite der Gefängnisalltag: mit elf anderen in einer winzigen Zelle eingezwängt, in der die einen noch essen, während die anderen auf dem einzigen stinkenden Kübel, der sich darin befindet, ihre Notdurft verrichten. Als „Politischer“ teilt sich der inzwischen 20-Jährige, den jetzt alle Mike nennen, seine Zelle mit Triebtätern und Mördern. Kontakte zur Familie und Außenwelt gibt es kaum noch, die Tage sind angefüllt mit stundenlanger Arbeit.

    Doch Michaels Geist ist noch immer nicht gebrochen. Schon mehrfach hat er versucht zu entkommen, mit immer neuen Basteleien. 1969 schließlich gelingt es ihm unter den Augen seines Stasi-Offiziers, eine Transportkiste zu präparieren. Er gelangt verladen als Speditionsgut bis zum Außenbereich des Gefängnisses, dann wird er geschnappt und in Isolationshaft gesteckt. Nur kurze Zeit später erklettert er einen der 50 Meter hohen Schornsteine der Anlage, fordert unter den Augen von Mithäftlingen und hektischem Sicherheitspersonal die Aufhebung der Isolation – auch außerhalb der Anstalt beginnen sich die Passanten zu sammeln. Schließlich gibt, zur Überraschung aller, vermutlich auch zu ihrer eigenen, die Leitung nach. Die Isolationshaft wird vorzeitig beendet.

    Der Stempel der Postkarte zeigt den 6. Juli 1971 – darauf abgebildet eine Stadt mit hohen Betongebäuden und davor ein VW Käfer. Es ist Gießen und die Karte stammt von Michael Gartenschläger. Nach rund einem Jahrzehnt ist Michael frei. Freigekauft vom Westen. Ein Wunder, das er nicht zuletzt einer gewissen Frau Fritz aus Hamburg verdankt, einer wohlhabenden Reederwitwe die sich mit ihrem Hilfswerk der helfenden Hände jahrelang vom Westen aus für die Freilassung der jungen Rebellen eingesetzt hat.

    Doch Michael ist noch nicht fertig mit der DDR. Kühn fährt er schon bald dank des Transitabkommens in die DDR – es ist sicher auch ein unbändiger Akt gegen die eigene Angst. Doch Michael ist in den Jahren der Haft hart geworden, gegen sich und gegen jenen zweiten deutschen Staat. Schon bald sitzen seine Fahrbegleiter nicht mehr nur im Nebensitz, sondern kauern im Kofferraum, um so unbemerkt über den Todesstreifen in die Freiheit zu gelangen.

    Doch nicht nur in der DDR wird Michael Fluchthelfer für über 30 Menschen, von denen er sechs persönlich über die Grenze bringt. Es verschlägt ihn sogar einmal nach Rumänien, wo er einen Pfarrerssohn retten will. Die Flucht misslingt, nachdem die Fliehenden eine Schranke durchbrochen haben, und so sitzt Gartenschläger 1973 wieder in einem sozialistischen Gefängnis – diesmal in einem jugoslawischen. Doch mit einem Löffel gelingt es dem ausgebildeten Schlosser zu entkommen und sich nach Deutschland durchzuschlagen.

    Februar 1976. Es ist eine kurze Zeitungsmeldung von gerade einmal fünf Zeilen, die Michael zum erneuten Handeln treiben. Wieder ein Toter an der Grenze – Selbstschussanlage. „Wir müssen etwas tun“, sagt Michael bestimmt, denn er ist überzeugt davon, dass nur internationaler Druck das DDR-Grenzregime mildern könne. Es ist ein mutiger Entschluss, denn Michael hat inzwischen einiges zu verlieren. Neben seinem unablässigen Engagement hat er sich eine berufliche Existenz aufgebaut: eine gut laufende Tankstelle, inklusive Reparaturwerkstatt. Doch weder das noch seine Freundin Brigitte schaffen es, gegen seine Entschlossenheit anzukommen.

    Bereits einige Tage später beginnen Michael Gartenschläger und seine Freunde – die meisten von ihnen wie Michael DDR-Flüchtlinge – mit den Erkundungen an der innerdeutschen Grenze. Ihr Ziel: der Abbau einer Selbstschussanlage. Quer durch einen neu gepflanzten Kiefernwald arbeiten sie sich auf den Grenzknick bei Wendisch/Rietz zu und schießen Fotos.

    Am 1. April schließlich, nachdem er beinahe von einem gescheiterten Abbauversuch getötet worden wäre, gelingt Michael das Unmögliche: In seinen Händen hält er das kalte lackierte Metall der SM-70-Sprengfallen, von denen es insgesamt rund 71.000 an der Mauer gibt. Es wird eine große Geschichte im „Spiegel“ mit dem Titel „Tödliche Würfel“, der die DDR-Führung der Lüge überführt. Hinter den Kulissen kommt der gesamte Apparat der Staatssicherheit in hektische Bewegung – eine tödliche Bewegung.

    Kurze Zeit nach dem ersten Abbau gelingt es Michael erneut, die DDR-Sicherheit zu düpieren, als er eine zweite Anlage entwendet. Am 30. April 1976, einem Freitag, nähern sich Michael und seine Freunde dann ein drittes Mal der Grenze. Kurz zuvor hatte Michael noch Geld auf die Bank gebracht, um jenes Haus zu kaufen, in dem er gemeinsam mit seiner Freundin wohnt. Was weder Michael noch seine Freunde wissen: Ausgestattet mit Nachtsichtgeräten lauert in der Dunkelheit bereits seit einer Woche eine schwerbewaffnete Todesschwadron der Stasi. Kurz vor Mitternacht kommt es zum Feuergefecht.

    Am 30. April 1976, einem Freitag, stirbt, gerade 32 Jahre alt, Michael Gartenschläger nach einem Schusswechsel im Sicherungsabschnitt der zwölften Grenzkompanie Leisterförde. Er hatte mit ungebrochenem Willen zehn Jahre im Zuchthaus gesessen, 31 Personen zur Flucht aus der DDR verholfen, ein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut, die Stasi-Anstaltsleitung bezwungen, war einem jugoslawischen Gefängnis entkommen, hatte halb Westeuropa und auf einer abgebrochenen Geiselbefreiungsmission Libyen bereist und die Selbstschussanlagen der DDR weltweit bekannt gemacht. Am 30. April 1976, einem Freitag, stirbt, gerade 32 Jahre alt, Michael Gartenschläger – ein wahrer Held.

  2. #2
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    Standard AW: In Memoriam Gartenschläger

    Zitat Zitat von kotzfisch Beitrag anzeigen
    Erinnerung
    Am Tag, als Michael Gartenschläger starb
    Das Leben und der Tod eines Helden der Freiheit

    Aus EF.....Danke

    Am 30. April 1976, einem Freitag, verteidigte Box-Weltmeister Muhammad Ali seinen Titel gegen Jimmy Young im Schwergewicht. Der äußerst umstrittene Kampf, der nicht durch k. o., sondern durch Punkte entschieden werden sollte, sorgte noch tagelang für Kontroversen. Am 30. April 1976, einem Freitag, wurde Victor H. Glover in der sonnigen kalifornischen Stadt Pomona geboren. Ein Afroamerikaner, der 2012 den ersten regulären Flug des SpaceX Crew Dragons zur internationalen Raumstation ISS durchführen sollte.

    Am 30. April 1976, einem Freitag, starb, gerade 32 Jahre alt, Michael Gartenschläger nach einem Schusswechsel im Sicherungsabschnitt der zwölften Grenzkompanie Leisterförde.

    Strausberg ist in den 50ern sicher einer der idyllischsten Orte im Umkreis von Berlin, angeschmiegt an einen fast vier Kilometer langen See, der den Namen der Stadt teilt. Hier kommt im Januar 1944 Michael Gartenschläger in einer zumindest nach außen hin unpolitischen Familie zur Welt. Der Junge hat wuscheliges Haar, ausgeprägte Wangenknochen und etwas abstehende Ohren, die ihm insgesamt einen ungemeinen Lausbubencharme verleihen.

    Das Land aber, in das er hineingeboren wird, ist kein Land für Lausbuben. Hier können selbst schon Witze über den Genossen Staatsratsvorsitzenden Karrieren beenden und Leben zerstören. Doch der junge Gartenschläger ist ein Rebell im Herzen und schaut geringschätzig auf die erzwungene rote Kleinbürgerlichkeit des ersten sozialistischen Staates auf deutschem Boden. Die Schule, die jeden Morgen mit dem Fahnenappell beginnt, die Thälmann-Pioniere und die blauen FDJ-Tüchlein vermögen ihm nichts zu geben. Nach der achten Klasse geht er von der Schule ab, um eine Lehre zu beginnen.

    Doch Michaels wahre Leidenschaft ist der Rock 'n' Roll, der auf Schallplatten und Funkwellen über die noch durchlässige innerdeutsche Grenze schwappt. Neben den bekannten Größen wie Elvis hat es ihm vor allem der Westberliner Ted Herold angetan, der im Radio Luxemburg Elvis auf Deutsch covert. Michael, nun Teil einer kleinen unbeugsamen Gruppe, die sich die „furchtlosen Fünf“ nennt und allerlei kleines Unheil anrichtet, findet sich wieder in Liedern wir Crazy Boy. Oft fahren die Freunde nach Westberlin und haben dort ihren kleinen Teil am American Way of Life.

    Es ist der 13. August 1961, ein regnerischer Tag, der Michaels Leben für immer verändern wird. Aus einem kleinen Kofferradio dringt die Meldung: Ein „antifaschistischer Schutzwall“ werde errichtet – die DDR sperre ihre noch nicht bereits geflohene Bevölkerung ein. Michael und seine Freunde sind empört. Die Freunde beginnen Graffitis zu pinseln: „Kommunisten raus!“, „Macht das Tor auf“ oder auch einfach: „SED nee“.

    Dann, während die Mauer sich unbeeindruckt schließt, zünden die Teenager eine freistehende Scheune an. Das Tatortfoto der Stasi wird am nächsten Tag einen undefinierbaren verkohlten Haufen zeigen. Am 19. August schließlich klopft es an die Tür, Michael wird verhaftet. Es folgen Tage, dann Wochen voller Demütigungen, Gewalt und Isolation. Am 15. September titelt schließlich die Zeitung triumphierend: „Brandts Natterngezücht wird ausgemerzt.“

    Am Folgetag wird das Urteil gegen die „konterrevolutionäre Verbrecherbande“ gefällt: lebenslänglich – und das auch nur, weil Micha und seine Freunde zu jung für die Todesstrafe sind. Es folgen dunkle Jahre in der Jugendstrafvollzugsanstalt Torgau und im Zuchthaus Brandenburg – Jahre voll kurzer Momente der Hoffnung und endloser Stunden der Verzweiflung, wenn Micha die Unentrinnbarkeit bewusst wird. Verbissen kämpft er gegen die Verzweiflung an, liest sich mit unbändigem Hunger quer durch die gesamte Gefängnisbibliothek, von Altertum bis Philosophie.

    Auf der anderen Seite der Gefängnisalltag: mit elf anderen in einer winzigen Zelle eingezwängt, in der die einen noch essen, während die anderen auf dem einzigen stinkenden Kübel, der sich darin befindet, ihre Notdurft verrichten. Als „Politischer“ teilt sich der inzwischen 20-Jährige, den jetzt alle Mike nennen, seine Zelle mit Triebtätern und Mördern. Kontakte zur Familie und Außenwelt gibt es kaum noch, die Tage sind angefüllt mit stundenlanger Arbeit.

    Doch Michaels Geist ist noch immer nicht gebrochen. Schon mehrfach hat er versucht zu entkommen, mit immer neuen Basteleien. 1969 schließlich gelingt es ihm unter den Augen seines Stasi-Offiziers, eine Transportkiste zu präparieren. Er gelangt verladen als Speditionsgut bis zum Außenbereich des Gefängnisses, dann wird er geschnappt und in Isolationshaft gesteckt. Nur kurze Zeit später erklettert er einen der 50 Meter hohen Schornsteine der Anlage, fordert unter den Augen von Mithäftlingen und hektischem Sicherheitspersonal die Aufhebung der Isolation – auch außerhalb der Anstalt beginnen sich die Passanten zu sammeln. Schließlich gibt, zur Überraschung aller, vermutlich auch zu ihrer eigenen, die Leitung nach. Die Isolationshaft wird vorzeitig beendet.

    Der Stempel der Postkarte zeigt den 6. Juli 1971 – darauf abgebildet eine Stadt mit hohen Betongebäuden und davor ein VW Käfer. Es ist Gießen und die Karte stammt von Michael Gartenschläger. Nach rund einem Jahrzehnt ist Michael frei. Freigekauft vom Westen. Ein Wunder, das er nicht zuletzt einer gewissen Frau Fritz aus Hamburg verdankt, einer wohlhabenden Reederwitwe die sich mit ihrem Hilfswerk der helfenden Hände jahrelang vom Westen aus für die Freilassung der jungen Rebellen eingesetzt hat.

    Doch Michael ist noch nicht fertig mit der DDR. Kühn fährt er schon bald dank des Transitabkommens in die DDR – es ist sicher auch ein unbändiger Akt gegen die eigene Angst. Doch Michael ist in den Jahren der Haft hart geworden, gegen sich und gegen jenen zweiten deutschen Staat. Schon bald sitzen seine Fahrbegleiter nicht mehr nur im Nebensitz, sondern kauern im Kofferraum, um so unbemerkt über den Todesstreifen in die Freiheit zu gelangen.

    Doch nicht nur in der DDR wird Michael Fluchthelfer für über 30 Menschen, von denen er sechs persönlich über die Grenze bringt. Es verschlägt ihn sogar einmal nach Rumänien, wo er einen Pfarrerssohn retten will. Die Flucht misslingt, nachdem die Fliehenden eine Schranke durchbrochen haben, und so sitzt Gartenschläger 1973 wieder in einem sozialistischen Gefängnis – diesmal in einem jugoslawischen. Doch mit einem Löffel gelingt es dem ausgebildeten Schlosser zu entkommen und sich nach Deutschland durchzuschlagen.

    Februar 1976. Es ist eine kurze Zeitungsmeldung von gerade einmal fünf Zeilen, die Michael zum erneuten Handeln treiben. Wieder ein Toter an der Grenze – Selbstschussanlage. „Wir müssen etwas tun“, sagt Michael bestimmt, denn er ist überzeugt davon, dass nur internationaler Druck das DDR-Grenzregime mildern könne. Es ist ein mutiger Entschluss, denn Michael hat inzwischen einiges zu verlieren. Neben seinem unablässigen Engagement hat er sich eine berufliche Existenz aufgebaut: eine gut laufende Tankstelle, inklusive Reparaturwerkstatt. Doch weder das noch seine Freundin Brigitte schaffen es, gegen seine Entschlossenheit anzukommen.

    Bereits einige Tage später beginnen Michael Gartenschläger und seine Freunde – die meisten von ihnen wie Michael DDR-Flüchtlinge – mit den Erkundungen an der innerdeutschen Grenze. Ihr Ziel: der Abbau einer Selbstschussanlage. Quer durch einen neu gepflanzten Kiefernwald arbeiten sie sich auf den Grenzknick bei Wendisch/Rietz zu und schießen Fotos.

    Am 1. April schließlich, nachdem er beinahe von einem gescheiterten Abbauversuch getötet worden wäre, gelingt Michael das Unmögliche: In seinen Händen hält er das kalte lackierte Metall der SM-70-Sprengfallen, von denen es insgesamt rund 71.000 an der Mauer gibt. Es wird eine große Geschichte im „Spiegel“ mit dem Titel „Tödliche Würfel“, der die DDR-Führung der Lüge überführt. Hinter den Kulissen kommt der gesamte Apparat der Staatssicherheit in hektische Bewegung – eine tödliche Bewegung.

    Kurze Zeit nach dem ersten Abbau gelingt es Michael erneut, die DDR-Sicherheit zu düpieren, als er eine zweite Anlage entwendet. Am 30. April 1976, einem Freitag, nähern sich Michael und seine Freunde dann ein drittes Mal der Grenze. Kurz zuvor hatte Michael noch Geld auf die Bank gebracht, um jenes Haus zu kaufen, in dem er gemeinsam mit seiner Freundin wohnt. Was weder Michael noch seine Freunde wissen: Ausgestattet mit Nachtsichtgeräten lauert in der Dunkelheit bereits seit einer Woche eine schwerbewaffnete Todesschwadron der Stasi. Kurz vor Mitternacht kommt es zum Feuergefecht.

    Am 30. April 1976, einem Freitag, stirbt, gerade 32 Jahre alt, Michael Gartenschläger nach einem Schusswechsel im Sicherungsabschnitt der zwölften Grenzkompanie Leisterförde. Er hatte mit ungebrochenem Willen zehn Jahre im Zuchthaus gesessen, 31 Personen zur Flucht aus der DDR verholfen, ein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut, die Stasi-Anstaltsleitung bezwungen, war einem jugoslawischen Gefängnis entkommen, hatte halb Westeuropa und auf einer abgebrochenen Geiselbefreiungsmission Libyen bereist und die Selbstschussanlagen der DDR weltweit bekannt gemacht. Am 30. April 1976, einem Freitag, stirbt, gerade 32 Jahre alt, Michael Gartenschläger – ein wahrer Held.
    Der Mauerfall am 9.11.89 hat Gartenschlägers Engagement Recht gegeben.

  3. #3
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    Standard AW: In Memoriam Gartenschläger

    Zitat Zitat von BrüggeGent Beitrag anzeigen
    Der Mauerfall am 9.11.89 hat Gartenschlägers Engagement Recht gegeben.
    Das wollte ich damit auch ausdrücken.Ich erinnere mich lebhaft an seine SM70 Aktionen: DU weißt was das war.Mutig einfach nur mutig.

  4. #4
    Balkan Spezialist Benutzerbild von navy
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    Standard AW: In Memoriam Gartenschläger

    ich kann mich auch noch erinnern.

    Michael Gartenschläger (* 13. Januar 1944 in Strausberg bei Berlin; † 30. April 1976 an der innerdeutschen Grenze zwischen Leisterförde/Bezirk Schwerin und Bröthen/Schleswig-Holstein) war ein politischer Häftling in der DDR und Fluchthelfer. Er wurde durch ein Spezialkommando des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) beim Versuch, eine Selbstschussanlage an der Grenze abzumontieren, erschossen.[1] In einem Urteil[2] vom 16. Februar 2005 hat der Bundesgerichtshof einen Angeklagten freigesprochen, dem vorgeworfen wurde, die Tötung Gartenschlägers organisiert und herbeigeführt zu haben; dabei wird unter anderem auf die Feststellung der Tatsacheninstanz abgestellt, dass das Landgericht nicht habe ausschließen können, dass Gartenschläger als erster geschossen habe. [Links nur für registrierte Nutzer]

  5. #5
    sticht zu Benutzerbild von Würfelqualle
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    Standard AW: In Memoriam Gartenschläger



    Waren widerliche Dinger !

  6. #6
    0000 Benutzerbild von Ruprecht
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    Standard AW: In Memoriam Gartenschläger

    Zitat Zitat von Würfelqualle Beitrag anzeigen


    Waren widerliche Dinger !
    Hab ich noch gezählt, immer früh 6 Uhr, so wurde sichergestellt das keine verschwunden war.
    Glaube ab 1985 wurden die dann abgebaut weil die DDR Hartgeld brauchte.
    "Alles Käse Genossen"

    Erich Mielke


  7. #7
    sticht zu Benutzerbild von Würfelqualle
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    Standard AW: In Memoriam Gartenschläger

    Zitat Zitat von Ruprecht Beitrag anzeigen
    Hab ich noch gezählt, immer früh 6 Uhr, so wurde sichergestellt das keine verschwunden war.
    Glaube ab 1985 wurden die dann abgebaut weil die DDR Hartgeld brauchte.
    Strauß forderte gar nicht den Abbau der SM 70. Das bot die DDR Strauß an, da war der Milliardenkredit aber schon bewilligt.


    Am 30. November 1984 demontierten Grenztruppen der DDR die letzten Splitterminen an der innerdeutschen Grenze. Auch nach dem Abbau der Selbstschussanlagen blieb die innerdeutsche Grenze praktisch undurchdringlich, weil die DDR sie inzwischen aufwändig verstärkt hatte.

  8. #8
    Mitglied Benutzerbild von Klopperhorst
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    Standard AW: In Memoriam Gartenschläger

    Zitat Zitat von kotzfisch Beitrag anzeigen
    ...
    Am 30. April 1976, einem Freitag, stirbt, gerade 32 Jahre alt, Michael Gartenschläger nach einem Schusswechsel im Sicherungsabschnitt der zwölften Grenzkompanie Leisterförde. Er hatte mit ungebrochenem Willen zehn Jahre im Zuchthaus gesessen, 31 Personen zur Flucht aus der DDR verholfen, ein erfolgreiches Unternehmen aufgebaut, die Stasi-Anstaltsleitung bezwungen, war einem jugoslawischen Gefängnis entkommen, hatte halb Westeuropa und auf einer abgebrochenen Geiselbefreiungsmission Libyen bereist und die Selbstschussanlagen der DDR weltweit bekannt gemacht. Am 30. April 1976, einem Freitag, stirbt, gerade 32 Jahre alt, Michael Gartenschläger – ein wahrer Held.
    Scheint ein ziemlicher Querulant gewesen zu sein.
    Solche Leute kriegen überall Probleme. Wahrscheinlich hätte er im Westen Stress mit der Mafia oder anderen bekommen.

    ---
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  9. #9
    Mitglied Benutzerbild von Klopperhorst
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    Standard AW: In Memoriam Gartenschläger

    Zitat Zitat von navy Beitrag anzeigen
    ... das Landgericht nicht habe ausschließen können, dass Gartenschläger als erster geschossen habe. [Links nur für registrierte Nutzer]
    Der Typ war ein Krimineller, sieht man doch an seiner Vita. Schon als Jugendlicher hat er Scheunen angezündet.
    Ein Glück wurde er unschädlich gemacht. Wahrscheinlich hätte er noch Grenzsoldaten hinterrücks gemeuchelt.

    Im Westen waren/sind solche Leute natürlich Helden.

    ---
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  10. #10
    Rufer in der Wüste Benutzerbild von Merkelraute
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    Standard AW: In Memoriam Gartenschläger

    Hier ist ein Bild von ihm: Die Kommunisten haben 120 mal auf ihn geschossen und trotzdem haben die roten Ratten verloren.

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