Vorbereitung der Volksabstimmung im März 2014 über ein Beitrittsgesuch an Russland © cc
«Russland hat die Krim nicht annektiert»
Red. / 16.09.2019 Eine «Annexion» setze eine gewaltsame Aneignung gegen den Willen der Bevölkerung voraus, sagt ein Professor für Rechtsphilosophie.
Politiker und Medien wiederholen es immer wieder: Russland habe die Halbinsel Krim völkerrechtswidrig «annektiert». Die Bevölkerung der Krim habe jedoch selber entschieden, sich Russland anzuschliessen und ein entsprechendes Aufnahmegesuch gestellt, das Russland angenommen habe. Diese Rechtsauslegung vertritt Reinhard Merkel, kürzlich emeritierter Professor für Strafrecht und Rechtsphilosophie an der Universität Hamburg. Bei aller Empörung über das russische Vorgehen und den Rausschmiss ukrainischer Repräsentanten aus der Krim, so Merkel, könne nicht ernsthaft bezweifelt werden, dass das Referendum auf der Krim im Ergebnis dem authentischen Willen einer grossen Mehrheit der Krim-Bevölkerung entsprach. Die einschlägigen Vorgänge auf der Krim erfüllten daher nicht dieKriterien einer Annexion. Ob die amtlichen Ergebnisse der Abstimmung im Einzelnen korrekt waren, sei dafür ohne Belang.
Kein Zweifel besteht allerdings darüber, dass die Behörden der Krim mit der Durchführung der Volksabstimmung und dem Vollzug ihres Ergebnisses gegen die ukrainische Verfassung und damit gegen völkerrechtliche Ansprüche der Ukraine verstossen haben. Russland seinerseits habe zweifach gegen das Völkerrecht verstossen: Durch die (nötigende) Bewegung seiner Militärangehörigen ausserhalb seiner Militärbasis und durch die Anerkennung der Abspaltung mit der sofortigen Aufnahme der Krim in den eigenen Staat.
Professor Merkel hält seine Einschätzung nach wie vor für richtig, die er bereits vor fünf Jahren in der «Frankfurter Allgemeinen» veröffentlicht hatte. Deshalb stellt sie Infosperber im Folgenden zur Diskussion.
«Es gab keine Annexion der Krim»
Hat Russland die Krim annektiert? Nein.
Waren das Referendum auf der Krim und deren Abspaltung von der Ukraine völkerrechtswidrig? Nein.
Waren sie also rechtens? Nein, denn sie verstiessen gegen die ukrainische Verfassung (aber das ist keine Frage des Völkerrechts).
Hätte aber Russland wegen dieser Verfassungswidrigkeit den Beitritt der Krim nicht ablehnen müssen? Nein, denn die ukrainische Verfassung bindet Russland nicht.
War dessen Handeln also völkerrechtsgemäss? Nein. Jedenfalls Russlands militärische Präsenz auf der Krim ausserhalb seiner Pachtgebiete dort war völkerrechtswidrig.
Folgt daraus nicht, dass die von dieser Militärpräsenz erst möglich gemachte Abspaltung der Krim null und nichtig war und somit deren nachfolgender Beitritt zu Russland doch nichts anderes als eine maskierte Annexion? Nein.
Die offiziellen Bekundungen westlicher Regierungen lauten anders. Glaubt man ihnen, dann hat Russland auf der Krim völkerrechtlich das Gleiche getan wie Saddam Hussein 1991 in Kuweit: fremdes Staatsgebiet militärisch konfisziert und dem eigenen zugeschlagen. Die Annexion damals, man erinnert sich, hat ihrem Urheber einen massiven Militärschlag zugezogen.
Wäre ein solcher Schlag, von seiner politischen Unmöglichkeit abgesehen, heute auch gegen Russland gerechtfertigt? Gewiss nicht.
Aber das ist nicht der einzige Grund, den regierungsamtlichen Vokativen von Berlin bis Washington zu misstrauen.
Sezession, Referendum, Beitritt ist etwas anderes als Annexion
«Annexion» heisst im Völkerrecht die gewaltsame Aneignung von Land gegen den Willen des Staates, dem es zugehört, durch einen anderen Staat. Annexionen verletzen das zwischenstaatliche Gewaltverbot, die Grundnorm der rechtlichen Weltordnung. Regelmässig geschehen sie im Modus eines «bewaffneten Angriffs», der schwersten Form zwischenstaatlicher Rechtsverletzungen. Dann lösen sie nach Artikel 51 der UN-Charta Befugnisse zur militärischen Notwehr des Angegriffenen und zur Nothilfe seitens dritter Staaten aus – Erlaubnisse zum Krieg auch ohne Billigung durch den Weltsicherheitsrat.
Schon diese Überlegung sollte den freihändigen Umgang mit dem Prädikat «Annexion» ein wenig disziplinieren. Freilich bietet dessen abstrakte Definition auch allerlei irreführenden Deutungen Raum. Aus einer von ihnen scheint sich das völkerrechtliche Stigma ableiten zu lassen, das der Westen derzeit dem russischen Vorgehen aufdrückt und an dem er die eigene Empörung beglaubigt.
Aber das ist Propaganda. Was auf der Krim stattgefunden hat, war etwas anderes: Eine Sezession, die Erklärung der staatlichen Unabhängigkeit, bestätigt von einem Referendum, das die Abspaltung von der Ukraine billigte. Ihm folgte der Antrag auf Beitritt zur Russischen Föderation, den Moskau annahm. Sezession, Referendum und Beitritt schliessen eine Annexion aus, und zwar selbst dann, wenn alle drei völkerrechtswidrig gewesen sein sollten. Der Unterschied zur Annexion, den sie markieren, ist ungefähr der zwischen Wegnehmen und Annehmen. Auch wenn ein Geber, hier die De-facto-Regierung der Krim, rechtswidrig handelt, macht er den Annehmenden nicht zum Wegnehmer. Man mag ja die ganze Transaktion aus Rechtsgründen für nichtig halten. Das macht sie dennoch nicht zur Annexion, zur räuberischen Landnahme mittels Gewalt, einem völkerrechtlichen Titel zum Krieg.
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Wer sich mit den Fragen «Annexion» oder «Sezession» der Krim und dem Vergleich mit der Abspaltung des Kosovo von Serbien intensiv auseinandersetzen möchte, kann in den folgenden Tagen auf Infosperber eine vertiefte Analyse lesen.