WiWo / Spanische Grippe / 07. April 2021
Die Erfahrungen der 1920er zeigen, was die Wirtschaft nach Corona erwartet
Taugt eine Pandemie zum Katalysator einer neuen Zeit?
Der IWF erhöhte jüngst seine Konjunkturprognose, manche Ökonomen spekulieren nach Corona auf eine Renaissance der Goldenen Zwanzigerjahre. Doch die historischen Erfahrungen mit der Spanischen Grippe lassen eher eine Scheinblüte erwarten.
Tyler Cowen galt bisher nicht als übermäßig optimistischer Vertreter seiner Zunft. Bekannt wurde der US-Ökonom durch Bücher, in denen er vor einer dauerhaften Verlangsamung des Produktivitätswachstums und einer steigenden Innovationsfeindlichkeit warnte. Umso erstaunlicher ist die Kehrtwende, die der Professor von der George Mason University in Virginia nun unter dem Eindruck der Coronapandemie vollzieht.
„2020 hat mehr wissenschaftlichen Fortschritt gebracht als alle anderen Jahre in der jüngeren Vergangenheit – und dies wird Bestand haben, auch wenn die Bedrohung durch Covid-19 verschwunden ist“, schwärmt Cowen. Die Totale Faktorproduktivität (TFP), eine Maßzahl für technischen Fortschritt, könnte bald „den vielleicht höchsten Wert aller Zeiten“ erreichen.
Mit dieser Einschätzung steht er nicht allein. Glaubt man dem Internationalen Währungsfonds (IWF), dann ist das konjunkturelle Tal der Tränen bald durchschritten. Auf der Frühjahrstagung der Organisation hat IWF-Chefvolkswirtin Gina Gopinath am Dienstag eine neue Prognose präsentiert, wonach die globale Wirtschaftsleistung 2021 trotz Corona um
sechs Prozent zulegen könnte. Deutschland kann demnach in diesem Jahr mit einem Wachstum von 3,6 Prozent rechnen. Zuvor hatte bereits die Welthandelsorganisation WTO ihre Prognosen nach oben geschraubt. Der „Economist“ sieht schon eine
„neue Ära des Fortschritts“ heraufziehen und verweist auf die
„schnelle Adaption neuer Techniken“ während der Krise – im Arbeitsleben, bei digitalen Bezahlsystemen, in der Telemedizin.
Das Magazin erwartet daher die historische Neuauflage der
„Wilden Zwanzigerjahre“ des vorigen Jahrhunderts.
Auch der US-Soziologe Nicholas Christakis fühlt sich in seinem jüngst erschienenen Buch „Apollos Arrow“ an die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg und an die damals wütende Spanische Grippe erinnert. Er sieht ein
exzessives Leben in der
Post-Corona-Ära anrollen, in dem sich die Menschen wie vor 100 Jahren aus ihrer Melancholie und Niedergeschlagenheit befreien.
„Die Menschen werden ihr Geld ausgeben, nachdem sie es gerettet haben“, sagt Christakis; er erwartet „Lebensfreude und Risikobereitschaft“, ein „Aufblühen der Künste“ – und „eine gewisse sexuelle Zügellosigkeit“.
Doch kann eine Pandemie tatsächlich zum Katalysator eines Technologie- und Wachstumsschubs werden?
Und welche historischen Rückschlüsse lassen sich aus der großen Pandemie vor einem Jahrhundert ziehen, der Spanischen Grippe, die zwischen 1918 und 1920 den Globus im Würgegriff hielt und zwischen 50 und 100 Millionen Menschen umbrachte? Als ökonomisch-gesellschaftliches Anschauungsobjekt taugt sie allemal:
In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg und der Pandemie – die Effekte der beiden Ereignisse sind schwer voneinander zu trennen – begann eine Ära mit Boomphasen und überschäumender Lebenslust, aber auch mit Hyperinflation (1923) und am Ende: einer Weltwirtschaftskrise (1929).
Die Analyse über die wirtschaftliche Zerstörungskraft der Pandemie beginnt mit einem Problem:
Es fehlen Daten. „Die ökonomischen Folgen der Spanischen Grippe sind wissenschaftliches Neuland“, sagt Eckard Michels, Wirtschaftshistoriker am Birkbeck College der Universität London.
In einer aufwendigen Forschungsarbeit hat der US-Ökonom Robert Barro daher 2020 mit Kollegen alte Sterbestatistiken aus 43 Ländern gesichtet und versucht, aus ihnen wirtschaftliche Effekte zu destillieren. Demnach führte die Spanische Grippe im Schnitt zu einem Rückgang des realen Bruttoinlandsprodukts von
sechs bis acht Prozent – eine interessante Analogie zum coronabedingten Wachstumsminus in der EU von rund
7,4 Prozent im Jahr 2020. Anders als heute starben damals allerdings vor allem jüngere Menschen an dem Virus. „Dies führte zu einem Verlust an Humankapital, der lange nachwirkte“, sagt Lars Feld, der Chef des Sachverständigenrats. Das ließe sich etwa in den USA und der Schweiz nachverfolgen, dort „hatte die Grippe spürbare negative Effekte auf das Wachstumspotenzial“.
Umso erstaunlicher war der
schnelle Aufschwung, der ab 1919 in Deutschland einsetzte. Während andere Staaten in die Krise rutschten, feierte das Deutsche Reich nach dem Ende von Krieg und Pandemie eine
Sonderkonjunktur. Der Boom war allerdings künstlich erzeugt, durch die Notenpresse finanziert:
Die Regierung, unterstützt von den Gewerkschaften, schob die Wirtschaft kurzfristig mithilfe der Inflation an. Da zugleich der Außenwert der Mark sank, „konnte die Industrie ihre Exportgüter zu Dumpingpreisen verkaufen“, sagt der Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe von der Universität Frankfurt.
Auch die Deutschland auferlegten Reparationsforderungen trieben die Preise. Als sich der Streit um die Reparationen zuspitzte und Frankreich und Belgien das Ruhrgebiet besetzten, öffnete die Regierung in einem Akt passiven Widerstands „vollständig die monetären Schleusen“, so Plumpe – und provozierte die Hyperinflation von 1923. Nach der Währungsreform 1924 begannen die
Goldenen Zwanzigerjahre. Der Aufschwung hatte dabei
drei Triebfedern.
Zum einen „entluden sich die jahrelang aufgestauten Konsumwünsche in einer stark wachsenden Güternachfrage“, sagt Historiker Michels. Der Markt für Haushalts- und Elektrogeräte wuchs ebenso wie die Freizeitökonomie. 1928 erreichte etwa die Zahl der Kinobesucher einen Höchststand.
Steigende Zinsen lockten zudem ausländische Investoren an. Vor allem aus den USA floss viel Kapital ins Land, belebte Ausrüstungsinvestitionen und Bauwirtschaft.
Zugleich veränderte sich die Unternehmenslandschaft. Wegen der Kriegs- und Grippetoten fehlten Fachkräfte, die Margen waren gering. „Die Unternehmen erhöhten mit einem scharfen Rationalisierungskurs ihre Effizienz, sie übernahmen amerikanische Management- und Produktionsmethoden“, sagt Michels.
Elektrifizierung und Massenproduktion trieben das Wachstum, Siemens und AEG avancierten zu Weltmarktführern, NSU startete die Fließbandproduktion von Motorrädern. Zwischen 1922 und 1928 vervierfachte sich die Zahl der Fahrzeuge auf den Straßen.
Doch als Blaupause für das Post-Corona-Zeitalter taugt diese Zeit nur bedingt und als Quelle der Hoffnung schon gar nicht.
„Die Goldenen Zwanziger waren eine Scheinblüte“, sagt Historiker Plumpe. Die Zeit sei uns „wegen ihres Glamours bis heute symbolisch präsent, aber in Wahrheit hat es die goldenen Jahre in Deutschland – zumindest ökonomisch – nicht gegeben.“
Das Ende der Spucknäpfe
Selbst Mitte der Zwanzigerjahre lag die Wirtschaftsleistung der Republik noch unter der von Frankreich und Großbritannien. Das deutsche Pro-Kopf-Sozialprodukt erreichte erst 1927 wieder das Vorkriegsniveau – sieben Jahre nach Ende der Pandemie. Im Vergleich zur Kaiserzeit herrschte relativ hohe Arbeitslosigkeit, und konstant war der Aufschwung auch nicht: 1925/26 brach die Konjunktur ein, die Regierung reagierte mit steigenden Ausgaben. „Dadurch kam es in der Folgezeit zu hochdefizitären Staatshaushalten“, sagt Plumpe. Es folgten zwei gute Jahre. Dann, 1929, kam der
globale Crash.
Wiederholt sich nun Geschichte?
Plumpe sieht mit Blick auf die damaligen industriellen Umbrüche „eine Analogie zur heutigen Zeit mit dem Megatrend Digitalisierung und Industrie 4.0: Man bekommt effizientere Produktionsstrukturen – aber im Zweifel solche mit weniger Arbeitsplätzen.“ David Folkerts-Landau, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, hat eine andere Sorge:
Er sieht, wie damals, ein riskantes Zusammenspiel von expansiver Geld- und Fiskalpolitik. Das führe „mit großer Wahrscheinlichkeit zusammen mit der Überwindung der Pandemie zu euphorischen Übertreibungen an den Märkten ähnlich wie in den Zwanzigern“.
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