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Das Heilige als Bremse
Was ist damit gemeint? In den Lebenswelten muslimischer Gesellschaften, so Prof. Diner, gelte nahezu durchgehend das Primat des Sakralen, ob im Alltag, in der Politik, Wirtschaft und im Recht. Die Allgegenwart des Sakralen behindere nicht nur die Ausdifferenzierung von privatem und öffentlichem Raum, sondern auch die Trennung von politischem, rechtlichem und wirtschaftlichem System mit je eigenen Funktionsweisen. Diner folgert daraus, dass diese Präsenz des Sakralen das größte Hindernis für eine gelungene Aufklärung in der sogenannten muslimischen Welt sei. Das klingt nur auf den ersten Blick tautologisch, denn Diners Verständnis des Sakralen verweist auf einen tief verankerten Habitus und materielle gesellschaftliche Bedingungen in der islamischen Lebenswelt.
Entsprechend legt Diner ein besonderes Augenmerk auf Schrift und Sprache, wo die Wirkungskraft des Sakralen besonders deutlich sei. Eine vergleichbare Entwicklung wie der Verlust der Vorherrschaft des heiligen Lateins im lateinischen Christentum an der Schwelle zur Neuzeit ist in der muslimischen Welt kaum zu beobachten. Hier ist das heilige Arabisch nach wie vor die Sprache der religiösen Praxis. Hinzu kommt, und das ist in seiner Wirkung kaum zu unterschätzen, dass die regionalen Umgangssprachen nicht verschriftlicht werden. Die Entwicklung einer profaneren Lebenswelt werde behindert, da diese "keinen angemessenen Sprachspeicher" findet. Und da dem klassischen Arabisch die Gegenwärtigkeit abgehe, könne es die Zeit nicht reflektieren: Sprache hält Zeit sogar auf - in diesem Sinne ist der Titel des Buches zu verstehen.
Der Untergang des Lateinischen als universelles Idiom der Elite wurde von einer Fragmentierung und Territorialisierung der religiösen Gemeinschaften begleitet. Im arabischen Raum wurden die Grenzen der heutigen Staaten hingegen mit dem Lineal gezogen. Entsprechend blieb hier die Territorialisierung ein äußerlicher Vorgang. Die Sprache des Korans avancierte zur Staatssprache aller arabischen Länder; staatsfähige Nationalkulturen haben sich kaum entwickelt. Stattdessen instrumentalisierte man die Religion zu einem ideologischen Kitt für den Zusammenhalt der Gesellschaften innerhalb der Territorialstaaten. Auch so verkam der Islam mehr und mehr zur Ideologie. Diese Entwicklung fächert Diner einleuchtend auf.
Die weltlichen Nationalsprachen waren ausschlaggebend für die Ausbreitung staatsfähiger Nationalkulturen. In der Türkei wurde in den ersten zwei Jahrzehnten nach der Gründung des Nationalstaates ein Reformprogramm angegangen, mit dem das Türkische als Nationalsprache nicht nur in der gesamten liturgischen Praxis des Islam durchgesetzt werden sollte, sondern auch in allen erdenklichen Kommunikationszusammenhängen. So werden die obligatorischen Freitagsansprachen in den Moscheen beispielsweise auf Türkisch gehalten. Der Koran wird jedoch auch in der Türkei weiterhin auf Arabisch rezitiert.
Die Versuche, das Arabische aus der religiösen Praxis zu verdrängen und durch das Türkische zu ersetzen, sind folglich zwar nicht in voller Breite gelungen, der Islam hat in der Türkei aber dennoch allmählich ein nationales und an der zeitgenössischen Alltagskultur orientiertes Gesicht erhalten. Und so ist für die Türkei festzuhalten: Was die Gesellschaft dort heute zusammenhält, ist nicht der Islam, sondern die Nationalkultur.
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