Der Preis der EU-Mitgliedschaft...Die Russophobie in Lettland und ihre Folgen
Von Grigori Wdowin
Die aggressive Russophobie in Lettland trägt Früchte. Die jeweiligen Vorfälle sind im Einzelnen grotesk. Am Strand nahe des beliebten Urlaubsortes Jurmala hat eine Lettin ein dreijähriges, russischstämmiges Kind geschlagen und gesagt, dass es in Lettland keinen Platz für Russen gibt. In Riga hat ein Arzt einer Patientin die Behandlung verweigert, weil diese Russisch sprach. Ferner leben in Lettland 300.000 russischstämmige Menschen, die keine Staatsbürgerschaft haben. Sie sind "Nichtbürger". Nationalistische Politiker forderten die Einrichtung von Ghettos für Russen, in denen sie isoliert von der übrigen Gesellschaft leben sollen.
Seit 1991 ist Lettland unabhängig, seit 2004 ist es Mitglied der Europäischen Union. Der EU-Beitritt hat vielen Letten nicht nur Vorteile gebracht. Doch die Antwort auf die Frage, wer daran schuld ist, ist schnell gefunden: Es sind die Russen.
Der linksgerichtete lettische Politiker Einars Graudins setzt sich für die Rechte der russischstämmigen "Nichtbürger" ein. Seine Arbeit wird von der Öffentlichkeit praktisch als Vaterlandsverrat gewertet. Von den Behörden wird Graudins permanent unter Druck gesetzt. Auch Verhaftungen und Hausdurchsuchungen sind für ihn keine Ausnahme mehr.
Ein Reisebüro in Riga wurde von maskierten Spezialeinheiten des lettischen Geheimdienstes gestürmt, weil dort Reisen auf die Krim angeboten wurden. Den Mitarbeitern des Reisebüros drohen bis zu fünf Jahre Haft.
Gelbe Züge aus sowjetischer Herstellung bedienen die Bahnstrecke zwischen Riga und Jurmala. Als wäre nichts gewesen. Der Ferienort Jurmala, der früher bei russischen Touristen beliebt war, hat sich ebenfalls nur wenig verändert, durchlebt heute aber keine einfache Zeit. Der Konzertsaal, in dem früher das russische Festival "Neue Welle" gefeiert wurde, ist leer und trist. Denn erstmals in diesem Jahr wird das Festival nicht stattfinden. Die Verluste für den Haushalt der Stadt Jurmala, die durch die Absagung des Festivals entstanden sind, werden auf knapp 20 Millionen Euro beziffert. Hotels und Restaurants stellen sich für den Sommer 2015 auf deutliche Umsatzeinbrüche ein. Insgesamt belaufe sich der Schaden aufgrund des Wegbleibens russischer Touristen auf 50 Millionen Euro. Bereits im Jahr 2014 ist die Anzahl russischer Touristen um über 50% geschrumpft. "Für Lettland stellten die Touristen aus Russland die größte und umsatzstärkste Gruppe dar", meint Wladislaw Karjagin, Experte des Touristikunternehmens "Baltic Travel Group".
"Ich höre einen Schrei, auf Lettisch. Ich sehe, wie eine Frau mein Kind am Arm packt und es schlägt", erzählt Wiktorija Udalowa, Russin aus Lettland. Sie war mit ihren Kindern am Strand, als eine andere Frau ihren drei Jahre alten Sohn dafür bestrafen wollte, dass er Russisch geredet hat. Dabei ist Udalowa lettische Staatsbürgerin und spricht Lettisch auf Muttersprachenniveau. Auch ihre Kinder sind Bürger dieses Landes. "Als ich die Frau zur Rede stellte und sie fragte, wieso sie gegen mein Kind die Hand erhebt, sagte sie: Das hier ist Lettland. Hier leben Letten. Wenn du Russisch reden willst, hau nach Russland ab", erzählt die empörte Wiktorija Udalowa.
"Russen sind Okkupanten", so meint ein erheblicher Teil der lettischen Bevölkerung. Wir trafen Illarion Giers, einen Okkupanten mit Erfahrung. Seine Vorfahren, unter denen Russen und Ostseedeutsche waren, leben seit über 200 Jahren in Lettland. Illarion spricht Russisch und setzt sich für die Rechte der Russen und der russischen Sprache ein. "Das Land Lettland war noch nicht geboren, als ich hier meine Wurzeln hatte. Ich gehöre wie meine Vorfahren der altorthodoxen Kirche an. Ich bin in Lettland geboren, habe für dieses Regime allerdings keinen Eid abgelegt. Die Russen werden hier systematisch unterdrückt. Die Europäische Union will davon nichts hören und nichts sehen", sagt Illarion Giers.
Seinen lettischen Pass hat Illarion schlicht verbrannt. Andere gehen sogar noch weiter. Sein Mitstreiter Alexander ist einer der so genannten "Nichtbürger". Er hat sich seine "Identifikationsnummer des Nichtbürgers" auf den Arm tätowiert. Wie in Auschwitz.
Wirtschaftlich ist es um das EU-Land Lettland nicht unbedingt gut bestellt. Auf dem Gemüsemarkt von Riga gibt es kaum noch einheimische Produkte. Alles ist mit Billigproduktion aus Polen geschwemmt. Auch Fabriken wurden nach 1991 massenhaft stillgelegt. Die berühmte Rigaer Waggonbaufabrik, die früher die gesamte Sowjetunion mit Straßenbahnen versorgte, wurde 1992 geschlossen und 2013 abgerissen. Die ebenfalls berühmte Fabrik für Radioelektronik wurde in ein Kaufhaus umgewandelt. Einzig die Parfümfabrik "Dzintars" existiert noch. Gerade noch so. Doch ihre Produktion geht nicht in die Europäische Union... sondern nach Russland und in die Arabischen Emirate. Auch die Produktion der Hersteller von Rigasprotten geht größtenteils nach Russland.
"Natürlich denkt die EU in erster Linie an ihre Interessen. In Brüssel sitzen harte Hunde. Es wurden deshalb osteuropäische Länder in die EU aufgenommen, um billige Arbeitskräfte zu holen und seinen Absatzmarkt auszudehnen", sagt Ilja Gertschikow, Chef der Parfümfabrik.
Der 79-jährige Politiker Alfred Rubiks, 1990-1991 Vorsitzender des Zentralkomitees der Lettischen Sozialistischen Sowjetrepublik, der in den 90er Jahren wegen "Hochverrates" im Gefängnis saß, war von 2009 bis 2014 Abgeordneter der Vereinigten Linken im EU-Parlament. Für ihn ist das Verständnis "Freies Lettland" nichts weiter als ein Mythos. "Wie kann man von einem freien Land sprechen, das jederzeit dazu bereit ist, der EU und den USA sofort jeden Wunsch zu erfüllen? Für einen Staat ist es wichtig, dass er sein eigenes Ich hat, dass er seine eigenen Perspektiven auf bestimmte Dinge entwickeln kann. In Lettland gibt es sowas nicht. Und das verängstigt viele".
In Lettland hoffen viele darauf, dass Sanktionen und Gegensanktionen bald hoffentlich ein Ende finden. Denn in Lettland spürt man diese Anspannung sehr stark. So stark wie wohl in keinem anderen europäischen Land.
Quelle: Abendnachrichten bei "Rossija 1"