Missbrauch in Rotherham Stadt des Schweigens

Ein Besuch im englischen Rotherham: 1400 Mädchen wurden hier von pakistanischen Banden missbraucht. Die örtliche Labour-Regierung vertuschte dies jahrelang.

Seit dem vergangenen Sommer ist Rotherham die Stadt mit dem vielleicht schlechtesten Ruf im Vereinigten Königreich. Im August stellte die Wissenschaftlerin und Sozialarbeiterin Alexis Jay ein Gutachten vor, das die Nation schockierte. Mehr als 1400 Mädchen wurden zwischen 1997 und 2013 von pakistanischen Banden in Rotherham sexuell missbraucht – und die Stadt schaute weg. Alarmiert schickte die Regierung in London eine Sondergesandte, Louise Casey, nach Rotherham. Anfang dieses Monats bestätigte Casey nun das Ungeheuerliche und sprach ein politisches Urteil: Die Führung Rotherhams, befand sie, sei „ihrer Aufgabe nicht gewachsen“. Daraufhin trat der Stadtrat geschlossen zurück. Kommissarische Vertreter aus London übernahmen den Betrieb.

All das ist schwer zu verstehen, und in Rotherham gibt es einige Leute, die es lieber gar nicht erst glauben. „Woher wollen Sie wissen, dass das stimmt?“, fragt ein Mann mit gereiztem Unterton. Er zieht es vor, seinen Namen mit „A1“ anzugeben, nicht weil er als hart arbeitender Automechaniker etwas zu verbergen hätte, sondern „weil man nie wissen kann“. A1 kommt, wie er sagt, aus Delhi, trägt eine coole Sonnenbrille und kennt die pakistanischen Einwanderer vor allem als Kunden.

„Ich hätte mitbekommen, wenn hier was laufen würde“, versichert er. Sein Kollege kann das nur bestätigen. Er sagt, dass er an diesem Tag überhaupt zum ersten Mal von einem Missbrauchsfall in Rotherham höre. A1 hält das, was in den Gutachten und Zeitungen steht, für „Gerede“, wenn nicht gar für üble Nachrede von Leuten, die Einwanderer nicht leiden können. „Es gibt hier kein Problem“, sagt er. „Alle kommen gut miteinander aus.“

So ähnlich sehen das auch die Politiker der örtlichen Labour Party, die die Kommune seit Menschengedenken regieren. Sie lebten in einem „Zustand des Abstreitens“, hielt Gutachterin Casey noch Anfang Februar fest. In den Pressemitteilungen, die die Ortsgruppe in den vergangenen Wochen herausgegeben hat, findet sich kein einziges Wort der Entschuldigung. Das Maximum an Reue verbarg sich in einer gewundenen Formulierung: Man habe „versucht, die Opferhilfe zu verbessern, ist aber nicht in der Lage gewesen, ausreichend und schnell genug zu handeln“.
Wer aussteigen will, wird bedroht

Um zu ermessen, wie weit derartige Selbsteinschätzungen von der Wirklichkeit entfernt liegen, muss man die offiziellen Berichte noch einmal kurz Revue passieren lassen. In Fallbeispielen, die zum großen Teil auf Interviews beruhen, arbeitete Jay die Muster heraus, nach denen sich die Zuhältergangs – vermutlich bis heute – an ihre Opfer heranmachen. Meist schicken die Banden junge Burschen los, um die Schulmädchen zu umgarnen. Sie beeindrucken mit einer Fahrt in einem schnellen Auto, mit einem neuen Handy, mit kostenlosen Drogen, gelegentlich auch mit dem Versprechen echter Liebe.

Erst allmählich werden die Mädchen dann älteren Männern zugeführt, später auch Freiern in Sheffield und anderen Städten in der Region. Wer aussteigen will, wird bedroht. Eines der Mädchen wurde mit Benzin übergossen. Anderen wurde die Macht ihrer Sklavenhalter vor Augen geführt, indem die kleine Schwester entführt oder der große Bruder krankenhausreif geschlagen wurde.

Die meisten Mädchen, manche noch keine zwölf Jahre alt, kommen aus zerrütteten Verhältnissen und werden von ihren Eltern vernachlässigt. Die Banden sorgen dafür, dass sie vollends den Kontakt zur Familie verlieren, bis sie keine Alternative mehr zu ihren neuen Bezugspersonen sehen. Jay spricht von „grooming“, vom systematischen Heranziehen der Mädchen zu Sexsklavinnen. Schon früh schlugen einige Sozialarbeiter Alarm – etwa ein Drittel der Opfer lebt in staatlicher Fürsorge –, aber ihre Berichte wurden von Vorgesetzten nicht weiterverfolgt oder sogar unterschlagen. Einige Sozialarbeiter mussten sich Rüffel, andere Sanktionen gefallen lassen.
Stadtangestellte missachteten klare Hinweise

Im Jahr 2001 wurde die Zustände zum ersten Mal aktenkundig. Die Regierung in London hatte im Rahmen eines „Verbrechensbekämpfungsprogramms“ Studien in ausgewählten Regionen und Städten erstellen lassen, darunter Rotherham. Das damals entstandene Gutachten deckte bereits viele Missstände auf: Stadtangestellte, die klare Hinweise missachteten, Polizisten, die Vergewaltigungsopfer einschüchterte statt deren Anzeigen aufzunehmen, und die bei Razzien minderjährige Mädchen festnahmen und nicht deren Zuhälter. Die Gutachterin berichtete später, die Stadtoberen hätten auf ihre Ergebnisse „mit Widerstand und Feindseligkeit“ reagiert. Selbst der Polizeichef habe ihr im Hinblick auf die Untersuchungen bedeutet, „so etwas nie wieder zu tun“.

Rotherham sex abuse report © Picture-Alliance Vergrößern Die Silhouette von Rotherham wird dominiert von der Industrie.

Wäre dieser ersten Bestandsaufnahme „der Ernst entgegengebracht worden, den sie verdiente“, schrieb Jay im vergangenen Sommer, hätten viele Mädchen gerettet und zahlreiche Kinderschänder verurteilt werden können. Doch das Versagen hielt an. In den darauffolgenden Jahren erhielten die Stadtoberen weitere Berichte – und auch diese wurden als aufgebauscht zurückgewiesen. Zeitungen, die über die Vorgänge in der nordenglischen Labour-Kommune berichteten, hielt man politische Einseitigkeit vor.

Man möchte die Verantwortlichen gerne fragen, wie das alles möglich war, aber sie sind nicht greifbar. Telefone werden nicht abgenommen, E-Mails nicht beantwortet. Bei der örtlichen Labour Party heißt es, nur einer sei derzeit befugt, mit der Presse zu sprechen: Chris Read. Aber der Stadtrat außer Diensten lässt seit Tagen einen Anrufbeantworter laufen und ruft nicht zurück. Die Stadt wirkt, als sei ihr ein Maulkorb umgehängt worden.
Kommunalpolitiker sind untergetaucht

Im Bürgermeisteramt heißt es schon im Eingang, niemand sei im Hause – eine Auskunftsperson sitze aber ein paar Straßen weiter, im „Riverside House“, dem Verwaltungssitz von Rotherham. Dort lässt sich Tracy Holmes, die Pressesprecherin der Stadtverwaltung, immerhin vom Empfang aus anrufen. Aber sehen will sie niemand, jedenfalls keinen Journalisten. „Ich leite Ihre Anfrage gerne weiter und melde mich dann“, sagt sie. Wenig später schickt sie eine E-Mail, an die sie die Pressemitteilungen der vergangenen Tage anhängt. Nachfragen bleiben unbeantwortet.

In den Pubs der Stadt wundert man sich nicht, dass die alten Kommunalpolitiker untergetaucht sind. „Die haben jetzt Angst, was Falsches zu sagen“, vermutet Martin, ein Sozialarbeiter aus Rotherham. „Was hier passiert ist, ist absolut schändlich, und wir brauchen jetzt massenhafte Ermittlungen, aber das wird nicht passieren“, prophezeit er. Nach Jahrzehnten ohne politischen Wechsel kennt man sich nur zu gut in den Behörden, bei der Stadt, bei der Polizei, bei der Staatsanwaltschaft. Auch die Verbrecher aus der pakistanischen Gemeinde, glaubt Martin, hätten nicht viel zu befürchten: „Labour legt sich doch nicht mit denen an, von denen es gewählt wird.“
Die Gräben könnten tiefer kaum sein

In den Zeitungen, insbesondere in der „Times“, die sich um die Aufklärung besonders verdient gemacht hat, ist derzeit viel von „politischer Korrektheit“ die Rede. In den Behörden sei geschwiegen worden, weil man nicht als „rassistisch“ oder „islamophob“ gebrandmarkt werden wollte. Die Gutachter bestätigen dies durch ihre Interviews, aber es ist nur ein Teil der Wahrheit. Ein anderer hat mit kaltem politischen Kalkül zu tun, und ein weiterer ist rein krimineller Natur.

Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass die nationale Polizeibehörde „National Crime Agency“ gegen einige Rotherhamer Stadträte und Polizisten mit pakistanischen Wurzeln ermittelt. Sie sollen selbst den Kinderschänderringen angehört und womöglich ein strafrechtliches Vorgehen behindert haben. Den 1400 Missbrauchsfällen stehen bislang nur fünf Verurteilungen gegenüber – und auch diese Männer sind mittlerweile wieder auf freiem Fuß. Vor wenigen Tagen erhöhte ein mysteriöser Tod die Unruhe in Rotherham: Der unter Verdacht stehende Polizist Hassan Ali kam, wie es in den Lokalzeitungen hieß, bei einem „Autounfall“ ums Leben. In den Pubs von Rotherham wird nun spekuliert, ob sich Ali vor ein Auto geworfen hat oder überfahren wurde. Möglicherweise habe jemand seine Aussage gefürchtet, heißt es.

[Links nur für registrierte Nutzer]