Über Jahrzehnte haben die Amerikaner die Politik des Westens gegenüber Russland gestaltet. In der bipolaren Ordnung des Kalten Krieges blieb den Westeuropäern nur sehr wenig eigener Handlungsspielraum. Und in den neunziger Jahren waren es die Amerikaner, die die Osterweiterung der westlichen Bündnisse – Nato und EU – machtpolitisch absicherten. Doch mit den neuen EU-Assoziationsabkommen, die Ende November im litauischen Vilnius mit Georgien, der Moldau und der Ukraine unterzeichnet werden sollen, wagen sich die Europäer aus dem Schatten der einstigen Schutzmacht. Im neuen geopolitischen Konflikt, der zwischen europäischen Mächten und Russland um die gemeinsame Nachbarschaft entbrannt ist, ist Amerika nicht mehr gestaltende Kraft, sondern nur noch Zuschauer.
Worum geht es? Die EU hat seit 2009 auf Initiative Polens eine «Östliche Partnerschaft» entwickelt, ein Programm, das darauf abzielt, in sechs ehemals sowjetischen Ländern die Prinzipien demokratisch-liberaler Staatlichkeit zur Geltung zu bringen. Im Gegenzug wird der Anschluss an westliche Stabilität und an den gigantischen EU-Markt geboten. Moskau passt diese Initiative überhaupt nicht, weshalb es eine Zollunion entwickelt hat, die in eine «Eurasische Union» münden soll – nach dem Modell der EU. Bisher sind nur Kasachstan und Weissrussland beigetreten; die meisten der postsowjetischen Länder weigern sich, Moskaus Drängen nachzugeben. Für sie ist das Bündnis unattraktiv. Es bietet nur sehr zweifelhafte ökonomische Vorteile, und es zementiert Moskaus Einfluss auf Staaten, die längst eine politische Kultur der Eigenständigkeit entwickelt haben.
Armenien allerdings hat sich dem Druck aus Moskau gebeugt. Das Land ist auf russisches Wohlwollen angewiesen, angesichts des nur halb eingefrorenen Konflikts mit Aserbeidschan über Nagorni Karabach kann es sich Spannungen mit Moskau nicht leisten. Die Ukraine dagegen, das bedeutendste Land der Östlichen Partnerschaft, weigert sich – obwohl der Präsident Janukowitsch lange Zeit als Moskau-hörig galt. Doch Janukowitsch ist offenbar entschlossen, das Land in eine Assoziation mit der EU zu führen, auch gegen massiven russischen Druck. Ob es dazu kommen wird, ist noch fraglich. Die EU sieht die Haftentlassung der Oppositionsführerin Timoschenko als Voraussetzung für eine Unterzeichnung an.
Mit der Vorbereitung von Assoziationsverträgen mit den Ländern der Östlichen Partnerschaft ist die EU in einen geopolitischen Wettbewerb mit Russland eingetreten. Nach Jahren, in denen die EU beteuert hat, sie sei nur an Win-win-Lösungen zum allseitigen Gewinn interessiert, stellt sie sich nun offen der Konkurrenz mit Russland. Denn die Assoziation ist exklusiv: die Länder der Östlichen Partnerschaft können sich nur an eine Seite binden, da die Bedingungen des Vertrags nicht kompatibel miteinander sind.
Und dennoch sind beide Akteure nicht gleich. Für den Kreml, der die Welt in klassisch-geopolitischen Begriffen von Macht und Einflusssphären sieht, geht es um Kontrolle und Dominanz. Für die EU dagegen geht es tatsächlich um die Stärkung und Stabilisierung der Nachbarschaft durch die Übernahme des Erfolgsmodells der liberalen Demokratie und der Marktwirtschaft.
Die EU bietet Hilfe an und lockt, während Russland offen droht.
Dass die EU jetzt in Konkurrenz mit Russland über die gemeinsame Nachbarschaft treten kann, liegt daran, dass Putin trotz allem Macho-Gehabe an aussenpolitischem Einfluss verloren hat.
Die Länder der Östlichen Partnerschaft fühlen sich bedroht durch einen Kremlherrn, der aggressiv auftritt und sich an keine Spielregeln hält; sie streben deshalb nach Westen. Die Europäer ihrerseits haben die Hoffnung auf baldige Modernisierung Russlands aufgegeben und sind jetzt weitgehend immun gegen Lockungen und Drohungen aus Moskau. Europa hat gegenüber Russland an Selbstbewusstsein und Geschlossenheit gewonnen und ist bereit, das Spiel der Geopolitik zu spielen, zu dem der Kreml die Europäer zwingt.