Zitat von
ortensia blu
Kolumne
von Konrad Adam
Der Mann, der mir am Busbahnhof seinen verbeulten Pappbecher unter die Nase hielt und dazu irgend etwas von einem Obdachlosenprojekt erzählte, war anders als die meisten. Sein Ton war lauter, seine Gestik zudringlicher, seine Miene fordernder als die der vielen anderen, die es genauso machen wie er.
Das reizte mich, und ich erklärte ihm, daß ich nichts geben würde, weil ich schon längst etwas gegeben hätte. Wann denn, wo denn und wieviel denn, fragte der Unbekannte. Darüber könne er besser Auskunft geben als ich, antwortete ich ihm; er wisse doch, wo das Sozialamt liegt und welche Summe er dort regelmäßig einstreichen könne. Dies Geld falle nicht vom Himmel, es stamme von mir und den Steuer- und Beitragszahlern, die neben, vor und hinter mir - ich machte eine weite Geste - auf den Bus warteten.
Für einen Augenblick stutzte der Mann. Dann hatte er sich gefangen und legte los: Was für eine Unverschämtheit! So etwas sei ihm noch nie passiert! Schließlich sei er arbeitslos; im Unterschied zu all den anderen, die bloß kassierten, stelle er sich aber seiner Situation. Aus ihm sprach unser Wohlfahrtsstaat in seinen letzten Zügen: "Sich seiner Lage stellen" heißt nicht, etwas zu unternehmen, die Augen aufzusperren, sich etwas einfallen zu lassen und auf eigene Faust nach einer Beschäftigung zu suchen. "Sich stellen" heißt, zweimal die Hand aufzuhalten, erst auf dem Amt und dann noch einmal auf dem Busbahnhof.
Trotzdem, der Mann verdient keinen Vorwurf. Er tut ja nur, was er von einer selbstgefälligen, der Wirklichkeit gründlich entfremdeten Sozialverwaltung gelernt hat. Sie hat ihm beigebracht, den Verkauf von Zeitungen, die niemand lesen will, als Arbeit anzusehen, die öffentliche Unterstützung als einen Rechtsanspruch zu betrachten und Betteln für einen Beruf wie jeden anderen zu halten. Der Mann verdient Mitleid. Ihm wurde ja gleich zweimal übel mitgespielt, erst von der müden Konjunktur und dann noch einmal von einer übergeschnappten Sozialindustrie.
Längst ist der Sozialetat zum größten Haushaltstitel angeschwollen; zum größten und zum ineffektivsten. Die 84 Milliarden, die zur Bekämpfung von sozial genannter Kälte und zur Herstellung von sozial genannter Wärme aufgewandt werden, bewirken wenig oder nichts, weil sie die Menschen in die falsche Richtung drängen. Sie bestärken sie in dem Aberglauben, daß sie ein Recht besäßen, ihr Leben auf Kosten anderer zu führen: Und sie bekämpfen, ja ruinieren das Gefühl der Dankbarkeit, auf das der Wohlfahrtsstaat, der gibt und nimmt, am allerwenigsten verzichten kann.
Allein in Berlin halten mehr als 500 000 Menschen, ein Sechstel der gesamten Einwohnerschaft, auf Dauer ihre Hände auf, vielfach schon in der zweiten oder dritten Generation. Dabei haben sie, wenn auch sonst nichts, jedenfalls eins gelernt: wie man an öffentliche Gelder kommt. Sie kennen die üppige Ratgeberliteratur, die ihnen klarmacht, wie man mit dem Sozialamt Schlitten fährt, und wählen Parteien wie die Grünen, die PDS oder die neue Linkspartei, die ihnen allesamt versprechen, daß alles Glück von oben kommt, vom Staat, und sie sich selbst um nichts zu kümmern brauchen.
Man kann den Rechtsanspruch auf Zuwendung und Hilfe, wie er vom deutschen Wohlfahrtsstaat in exzessiver Weise durchgesetzt worden ist, als Fortschritt betrachten. Auch der hat aber seinen Preis. Solange man weiß, daß die Mühseligen und Beladenen, die sich ein bißchen Geld erbetteln wollen, schon von Amts wegen ihr Auskommen finden, fühlt niemand sein Gewissen schlagen, wenn er in ihre Pappbecher nichts wirft. Der Sozialstaat wollte die private Mildtätigkeit durch den Rechtsanspruch ersetzen. Das hat er geschafft. Über die Folgen sollte er nicht klagen.
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Hat der Autor nicht Recht?
Der Sozialstaat verdirbt den Charakter und schafft erst "soziale Kälte".