Islam - sind wir zu blauäugig?
Der Orientalist Hans-Peter Raddatz warnt vor
unkritischer Toleranz im Dialog mit Muslimen. Das
Abendblatt stellt seine provokanten Thesen zur
Diskussion.
München - In den vergangenen drei Jahrzehnten hat
sich eine Sonderform der Kommunikation gebildet, die
sich "Dialog mit dem Islam" nennt. Spezialisten der
Kirchen, Politik, Universitäten, Wirtschaft sowie
zahlreichen anderen Instituten finden hier ein stabiles
Auskommen. Einzige Voraussetzung für garantierten
Erfolg war bisher das unbeirrte Festhalten an einigen
wenigen Dogmen: "Der Islam ist tolerant -
Fundamentalismus ist nicht Islam - Islam bedeutet
Frieden". Dabei wird behauptet, dass es "den Islam"
auf Grund seiner Vielfalt eigentlich nicht gebe, "der
Islam" dennoch geradezu monolithisch tolerant sei.
Als die durch Osama bin Ladens
Selbstmord-Terroristen gekaperten Flugzeuge in die
Türme des World Trade Center einschlugen und
Tausende Unschuldiger unter sich begruben, schienen
die Ideen des Friedens und der Toleranz für einen
Moment aus dem Gleichgewicht geraten zu sein.
Nur wenige Tage nach dem 11. September bildete
sich eine Solidaritätsfront für den islamistischen
Zentralrat der Muslime, der den bislang favorisierten
Islamistenkader der Milli Görüsh ablöste und nicht
wenigen die Frage aufdrängte, wie auf diese Weise
eigentlich die Mehrheitsinteressen der "gemäßigten
Muslime" zu Wort kommen sollten. Bundespräsident
Johannes Rau, Innenminister Otto Schily, Kardinal Karl
Lehmann, EKD-Präses Manfred Kock, sogar Paul
Spiegel, der Zentralratspräsident der Juden in
Deutschland, und viele andere rückten entschlossen
zusammen und erneuerten das Dialog-Credo lauter als
je zuvor: Kanzler Schröder brachte dieses Credo auf
einen knappen Nenner: "Die Anschläge haben - das
wissen wir - nichts, aber auch gar nichts mit Religion
zu tun."
Wirklich nicht? Wichtigste Vertreter des Islam
scheinen da ganz anderer Meinung zu sein. Abgesehen
davon, dass schon im Jahre 1996 die Religionsbehörde
von Medina den Dialog mit Nichtmuslimen mit
Glaubensabfall gleichsetzte, stellte M. Tantawi,
Präsident der Azhar-Universität in Kairo, nach dem
Anschlag fest, dass auch Fundamentalisten als
Angehörige des Islam gälten, weil sie fest auf dem
Boden des Koran stünden. Zudem bestätigte Scheich
Qaradhawi, Rechtsautorität am Golf, dass der
Selbstmord im Einsatz für den Islam als
verdienstvolles Verhalten einzustufen sei, das zum
direkten Übergang ins Paradies berechtige. Der Kampf
für die Interessen und die Ausbreitung des Islam
(Dschihad) gehöre zu den vornehmsten Pflichten des
Gläubigen, weil er einen Dienst an der Gemeinschaft
darstelle, dem sich kein gläubiger Muslim entziehen
könne. Mit den Wahrnehmungen des Dialogs von
Frieden und Toleranz haben diese Feststellungen
wenig zu tun.
Wie ist dann die erkennbare Kluft zwischen
islamischer Wirklichkeit und dialogischer Wunschwelt
zu deuten? Welcher Art von Vernunft folgen die
Vertreter eines Dialogs, der offensichtlich so wenig
Kenntnis vom realen Kontext und Selbstbild der
Muslime nehmen will?
Ein Beispiel für die hier immer wieder zu
beobachtende Vorgehensweise betrifft die Begründung
für die zentrale Dialogfiktion der islamischen Toleranz.
In monotoner Wiederholung werden hier im
Wesentlichen drei Aspekte herangezogen:
1. Im Kalifat von Cordoba sei eine kulturelle
Hochblüte im Zusammenleben von Muslimen, Christen
und Juden erreicht worden.
2. Der Schutzvertrag für die christlich/jüdischen
Minderheiten (Dhimma) habe diesen Toleranz und
Eigenständigkeit gesichert.
3. Allein der koranische Satz, nach dem es "keinen
Zwang im Glauben" gebe (2/256), bestätige
unzweifelhaft die Glaubensfreiheit und Toleranz im
Islam.
Aussage 1 trifft in dem Sinne zu, dass einige wenige
der andalusischen Kalifen - vornehmlich im
10. Jahrhundert - als tolerant gelten können,
allerdings die "Tradition" der Christenverfolgung nur
entsprechend kurzfristig unterbrochen haben, die
durch die nachfolgenden Almohaden aus Nordafrika
umso brutaler aufgegriffen wurde.
Aussage 2 trifft in dem Sinne zu, dass Christen und
Juden als "Schriftbesitzer" eine Sonderbehandlung
erfahren, indem sie nicht wie die Heiden sofort zu
töten sind. Dies hinderte in der Geschichte nicht an
zahlreichen Benachteiligungen und Repressalien,
welche die Angehörigen beider
Glaubensgemeinschaften drastisch reduzierten und
sich bis in unsere Tage mit regelrechten Massakern an
Christen in Sudan, Nigeria und Indonesien fortsetzten.
Aussage 3 trifft in dem Sinne zu, dass "kein Zwang
im Glauben" eine Aussage des Koran ist und daher nur
für Muslime gilt, die ihren Glauben den Regeln
entsprechend, das heißt "uneingeschränkt", ausüben.
Wer allerdings seinen Glauben verlassen will, riskiert im
Islam sein Leben.
Der Kampf für die Ausbreitung des Islam gehört
zu den vornehmsten Pflichten des Gläubigen, weil
er einen Dienst an der Gemeinschaft darstellt.
Das Auffallende an dieser Art von "Argumentation"
ist die willkürliche Auswahl der "Beweise" und ihre
fehlende Verbindung mit der realen Geschichte sowie -
und dies ist entscheidend - mit dem Selbstverständnis
der Muslime. Diese leben aus ihrer Geschichte, die
immer auch Heilsgeschichte ist. Der Koran und sein
Verkünder Muhammad, das Wort Allahs und der durch
ihn geforderte Dschihad, der Kampf gegen die
Ungläubigen, sind ihnen unmittelbar gegenwärtig und
vom Propheten selbst vorgelebt worden. Nicht zuletzt
hatte dieser in den 20er-Jahren des 7. Jahrhunderts
unbequeme Kritiker durch Auftragsmörder beseitigen
und in einem beispiellosen Massenmord zwischen
700 und 900 Juden in Medina umbringen lassen. Da
der Koran das unveränderbare Gesetz und Muhammad
das unübersteigbare Vorbild der Muslime ist, bildet der
Dschihad in diesem konkreten Sinne auch heute, wie
Scheich Qaradhawi und viele seiner Kollegen weltweit
nicht müde werden zu bestätigen, die unausweichliche
Pflicht eines jeden Gläubigen.
Gerade diesen für die Diskussion in der deutschen
Gesellschaft wesentlichen Aspekt blenden die
führenden Dialogvertreter gezielt aus. Unlängst ließ die
"Fachstelle Dialog" der Deutschen Bischofskonferenz
an alle Abgeordnete des Deutschen Bundestages eine
Darstellung über "Islam und Gewalt" verteilen, in der
ein weiterer Stereotyp des Dialogs noch einmal
ausführlich wiederholt wird. Es handelt sich hier um die
seit Jahrzehnten tief eingeschliffene Floskel, derzufolge
der Dschihad eine "Anstrengung im Glauben" darstelle,
womit allerdings - insbesondere in den Augen der
Muslime - die Grenzen zum Absurden überschritten
werden.
Nach den Koran-Kommentaren und der Tradition
des Propheten (Hadith) bedeutet Dschihad in
allererster Linie der Kampf gegen die Ungläubigen und
damit für die Ausbreitung des Islam. Der Löwenanteil
der Aussagen ruft zu Aggression und zum Teil zur
Tötung der Nichtmuslime auf und behandelt vor allem
Fragen der Beuteverteilung. Zur weiteren
Verschleierung der Tatsachen zieht der Dialog die
Unterscheidung zwischen dem "großen" und dem
"kleinen" Dschihad heran, wobei Ersterer sich auf den
islamisch-mystischen Sprachgebrauch im Sinne einer
Anstrengung um die "Läuterung der Seele" bezieht.
Letzterer bedeutet den eigentlichen Kampf, der in
unserer Zeit außer Gebrauch gekommen sein und im
Grunde keine Rolle mehr spielen soll.
Es ist an der Zeit, die Kompetenz des Dialogs und
der deutschen Islampolitik insgesamt einer
genaueren Prüfung zu unterziehen.
Hier ist interessant zu wissen, dass auch Sayyid
Qutb, der von Nasser im Jahre 1956 hingerichtete
Radikalmuslim und Vorbildgestalt der radikalen
Muslimbruderschaft, den "großen Dschihad" durchaus
kennt und ihn als Läuterung der Seele im Sinne einer
notwendigen, inneren Vorbereitung auf den
kompromisslosen Kampf gegen die Ungläubigen
fordert. Interessant ist dabei, dass es diese
Muslimbrüder sind, die nun von den gesellschaftlich
Verantwortlichen hofiert und gefördert werden. Denn
nach dem Islamistenkader der türkischen
Milli-Görüsh-Gemeinschaft ist es jetzt der "Zentralrat
der Muslime in Deutschland", der sich der besonderen
Gunst des deutschen Islamdialogs erfreut. Dabei ist zu
berücksichtigen, dass die islamischen Organisationen
in Deutschland weniger als ein Prozent aller in
Deutschland lebenden Muslime vertreten. Der
Zentralrat steht unter Leitung von Nadim Elias, dem
nicht nur die Mitgliedschaft bei den Muslimbrüdern
nachgesagt wird, sondern der auch Vorsitzender der
saudisch finanzierten Bilal-Moschee in Aachen ist, die
unter Beobachtung des Verfassungsschutzes steht.
Indem also wichtigste Repräsentanten der
deutschen Gesellschaft den Islamismus in Deutschland
fördern, schaffen sie genau den Schutzraum für die
Entwicklung und Vorbereitung islamischer Gewalt, wie
er durch die Ermittlungen nach dem Terroranschlag zu
Tage getreten ist. An der Ideologie der zwanghaften
Islamtoleranz hat dies zunächst nichts geändert, so
dass immer mehr Türken angesichts des islamistischen
- und arabischen - Übergewichts ihre Religionsfreiheit
mit Recht gefährdet sehen. Auch die Juden in
Deutschland zeigen sich besorgt, weil sie hinter der
stereotypen Radikalisierung des Dialogs einen neuen
Antisemitismus befürchten.
Nicht zuletzt handelte es sich beim Verteiler der
bischöflichen Gewaltstudie an das Parlament um die
Konrad-Adenauer-Stiftung, deren türkischer Ableger
in Istanbul vor wenigen Wochen unter Anklage gestellt
wurde. Ihr wirft der Generalanwalt der
Staatssicherheitsbehörden "islamistische" und damit
"staatsfeindliche" Umtriebe vor. Aus dem gleichen
Grunde hatte Staatspräsident Ecevit Kanzler Schröder
bereits 2000 um die Schließung des Deutschen
Orient-Instituts in Hamburg gebeten, weil dessen
Leiter sich seit Jahren für islamistische und
"antitürkische" Kräfte einsetze. Letzterer hatte nicht
nur ein Einreiseverbot in die Türkei zu überstehen,
sondern irritierte schon seit längerem seine Umgebung
mit Begriffen wie "Menschrechtsarroganz", die
westliche Gesprächspartner im Umgang mit dem Islam
zu vermeiden hätten.
Im Interesse einer demokratischen Mitsprache
scheint es an der Zeit, nicht nur diese
Zusammenhänge, sondern die Kompetenz des Dialogs
und der deutschen Islampolitik insgesamt einer
genaueren Prüfung zu unterziehen.
Von Hans-Peter Raddatz erschienen: Von Gott zu
Allah? Christentum und Islam in der liberalen
Fortschrittsgesellschaft. Herbig Verlag, München 2001,
528 Seiten, 68 Mark.
Raddatz ist auch Co-Autor des internationalen
Standardwerkes "Encyclopedia of Islam".
Quelle : Hamburger Abendblatt (8.1.2002)