Interview Il Foglio, 15.11.04
Il Foglio Hat die Ermordung von Theo van Gogh der multikulturellen Gesellschaft ein Ende gesetzt? Was funktioniert dabei nicht?
Alice Schwarzer Das Problem der so genannten multikulturellen Gesellschaft ist die falsche Toleranz. Es kann keine Toleranz mit selbstgerechten Fanatikern geben, die Aufklärung und Demokratie abschaffen wollen. Und die Meinungsfreiheit, wie wir an der Ermordung van Goghs sehen. Der hat sich ja nichts anderes zu schulden kommen lassen als seine kritische Meinung.
Il Foglio Islam und die Frauen: Sie bezeichnen es als eine neue Variante des Faschismus: können Sie diesen Gedanken etwas detaillierter erklären, warum dieser Vergleich?
Alice Schwarzer Wir sollten sehr genau unterscheiden zwischen Islam und Islamismus. Der Islam ist eine Religion wie das Christentum - beide kennen dunkle Phasen, Zeiten der selbstgerechten Kreuzzüge. Und auch im Christentum gibt es zur Zeit eine Renaissance der schriftgläubigen Fundamentalisten, nur sind die noch nicht ganz so militant in der Offensive. Der Islamismus ist eine politische Machtstrategie, die die Religion als Vorwand missbraucht. Und nicht zufällig nehmen auch die islamischen Gotteskrieger die Frauen als erste ins Visier, denn auch sie sind nichts anderes als die extremste Form der Männerbündelei. In zweiter Reihe stehen die Juden. In dritter die Intellektuellen und Künstler. Und dann alle, die "anders" sind. Ganz wie bei den Faschisten. Nur: Die Islamisten operieren wirklich im Weltmaßstab.
Il Foglio Im Interview mit dem Spiegel schreiben Sie, dass die Menschenrechtler auch im Hinblick auf Tschetschenien, wo seit 1994 die Scharia eingeführt wurde, hierzu nicht laut potrestieren. Hätten Sie ein Gehör, würden sie protestieren?
Alice Schwarzer An mir soll es nicht liegen. EMMA, das von mir herausgegebene politische Magazin für Frauen, hat bereits Mitte der 90er Jahre darauf aufmerksam gemacht, dass der zweite Tschetschenienkrieg nicht von den Russen, sondern von den Islamisten angezettelt wurde, die die Scharia einführten. Im Frühling 2002 habe ich dann ein Buch herausgegeben ("Die Gotteskrieger und die falsche Toleranz"), in dem die Problematik von meinem FAZ-Kollegen Lerch analysiert wird. Aber wir sind in Deutschland noch zu wenige, die das Ausmaß der Gefahr erkennen und benennen - und die nicht mit zweierlei Maß messen. Denn es fällt doch auf, dass die islamistischen Mordbrigaden in den Augen des Westens in den postsozialistischen Ländern - wie Russland oder Algerien - immer "Rebellen" sind. Sobald sie aber im Westen zuschlagen, sind es "Terroristen".
Il Foglio Die 68er Generation, die sich von den Vätern absetzen wollte und deshalb alles Fremde lobte, auf ihre Weise aber letzendlich einen Weg begangen hat, der bequem aber auch zwiespältig ist. Was war da falsch?
Alice Schwarzer Ich glaube, dass es bei der deutschen 68er Generation eine unbewusste Fortsetzung des Differenz-Denkens gibt. Wir sind die "einen" - und die Fremden die "anderen". In der Nazizeit wurde daraus eine offene Fremdenfeindlichkeit - heute wird daraus eine verhuschte Fremdenfreundlichkeit, die nichts anderes als die andere Seite der Medaille ist. Eine wirkliche Integration nimmt Fremde ernst und misst sie an denselben Maßstäben, an denen wir selber uns messen....
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