Zitat von
Bergischer Löwe
Ein gern begangener Fehler, das Kaiserreich kritiklos zu glorifizieren. Wirf nur mal einen Blick auf die sozialen Nöte der Gründerzeit:
Armut, Hunger bzw. Mangelernährung, Seuchen (!) wie TB und Cholera, Wohnraummangel und erbarmungslose Ausbeutung der unteren Schichten. Um genau zu sein, lebten zwischen etwa 1880 und 1914 zwei Drittel der Deutschen in bitterster Armut.
Oder auf die Politischen Nöte:
Dreiklassenwahlrecht im übermächtigsten Bundesstaat, der unselige Einfluß der ostelbischen Großgrundbesitzer ("Junker") auf Hof und Regierung, Aufkündigung des Religionsfriedens durch Preußens protestantische Potentaten und als Folge die Spaltung der Gesellschaft, die die gesamte Gesellschaft durchdringende Adels-Pöstchenwirtschaft sowie ein bis ins Mark verknöcherter Beamten- und Polizeistaat.
Gar nicht zu reden von den politischen Querelen und schwersten politischen Krisen zwischen Kaiser, Reichstag, Reichskanzler und dem Oberhaus (d.h. der Adelsrepräsentanz) mit den dadurch bedingten innen- wie außenpolitischen Unsicherheiten und faulen Kompromissen.
Das Kaiserreich war eine in weiten Feldern mit der heißen Nadel (Förderalismus, unklare Position des Kaisers, problematisches Verhältnis des Reichskanzlers zu Monarch und SPD/Zentrum dominierten Reichstag) gestrickte Frühgeburt, die sicher noch einige Jahrzehnte und grundlegende politische Reformen benötigt hätte, um die im Stadtschloß so heiß ersehnte souveräne Stabilität einer echten Großmacht wie Großbritannien zu erreichen.
Und um es vorwegzunehmen: Nein, GB hat Deutschland diese Chance 1914 nicht "genommen". Deutschland hatte zu diesem Zeitpunkt bereits 44 Jahre Zeit gehabt, die Geburtsfehler zu beseitigen. Diese Chance wurde verpasst, totdiskutiert und durch immer wieder neue Kanzler, deren Position immer unhaltbarer zwischen den Stühlen der Reaktion (Kaiserhaus, preußischer Landtag) und der Progression (Reichstag) wurde, unmöglich gemacht. Politisch war das Reich schon 1871 ein einziges Chaos. Wilhelm II. machte es dann ab 1888 noch schlimmer.