Zitat von
Suppenkasper
Auch wenn NITUP die fröhlich sprudelnden Internetquellen nicht zu unrecht geißelt, möchte ich gerne - vor allem im Zusammenhang mit seinem eigenen sehr durchdachten, und insbesondere was die person des Kaisers anbelangt überaus fairen Eingangsbeitrag - diesen interessanten Artikel einstellen, auf dem ich jüngst gestoßen bin
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Ersatunlich, dergleichen zu finden, aber nicht unmöglich, selbst in der bleiernen Zeit des frühen 21ten Jahrhunderts.
Die Diskussion um Großbritanniens Motive mag, für diejenigen, welche sich nicht den ganzen Text zu Gemüte führen wollen, durch diesen Auszug angeregt werden:
"Wirtschaft
"Als Ausfuhrland erreichte Deutschland 1880 den vierten Platz hinter Großbritannien, Frankreich und den Vereinigten Staaten von Amerika. Nach 1890 nahm der wirtschaftliche Aufstieg ein beinahe stürmisches Tempo an. Deutschland überflügelte Frankreich und näherte sich von der Jahrhundertwende an in immer schnelleren Schritten England, erreichte es sogar auf einigen Produktionsgebieten,...Deutschland war bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges der größte Eisen- und Stahlproduzent Europas [nur das Wirtschaftswachstum der USA hielt Schritt] und stand in der Kohleproduktion an zweiter Stelle. Neben der Schwerindustrie begründeten insbesondere die Chemische, Optische und die ElektroIndustrie [in diesen Industriezweigen hatte Deutschland praktisch eine Welt-Monopolstellung] die wirtschaftliche Weltgeltung Deutschlands. An dem sich von 1890 bis 1910 wertmäßig auf 150 Milliarden Mark verdoppelnden Welthandel war Großbritannien mit 20, Deutschland mit 16, die Vereinigten Staaten mit 14 und Frankreich mit 11 Milliarden beteiligt…"
Und auch dies ist lesenswert
Die Flotte - zu stark und zu schwach
Nun war bereits vor seiner Zeit, nämlich seit 1850 etwa, nach der englischen die deutsche Handelsflotte die zweitgrößte der Welt, die HAPAG der Welt größte Reederei überhaupt.
Unter Wilhelm I. war die Kriegsflotte nach Niederwerfung Frankreichs 1871 schon einmal die zweitstärkste nach der englischen gewesen, sackte dann aber auf den vierten Rang (nach England, Frankreich, Rußland), bis Wilhelm II. 1897 Tirpitz zum Staatssekretär des Reichsmarineamtes berief, der über ein wohlbegründetes Konzept verfügte, auf gesetzlicher Grundlage durch Reichstag und Bundesrat die Flotte so stark machen wollte, daß ein Angriff auf sie selbst für die größte Seemacht ein Risiko sei, sie dadurch abschreckend und friedenserhaltend wirke und die Bündnisfähigkeit Deutschlands erhöhe. Darum sei eine Schlachtflotte für die Nord. und Ostsee, nicht aber eine Kreuzerflotte für Übersee (die der Kaiser anfangs favorisierte) zu bauen. Technisch drückte sich der defensive Charakter der dann von Tirpitz gebauten deutschen Schlachtflotte darin aus, daß Panzerung und Sinksicherheit (die passive Standkraft) stets Vorrang vor Reichweite, Geschwindigkeit und Bewaffnung (aktive Schlagkraft) hatten. Eine offensive Kreuzerflotte mit umgekehrter Gewichtung hätte bei den damaligen kohlebefeuerten Schiffen ein System von Stützpunkten erfordert, deren Erwerb im Frieden ständige Konflikte mit Kriegsgefahr provoziert hätten und im Kriegsfall, wie Tsingtau zeigen sollte, nicht zu halten wären, zumal gegen England, für das ungestörte Verbindungen zum Empire lebenswichtig waren und das auf deren Gefährdung höchst empfindlich, wahrscheinlich mit einem Präventivschlag wie gegen die dänische Flotte vor Kopenhagen (1807), reagiert hätte.
Schiffe mit Ölfeuerung standen um die Jahrhundertwende noch nicht zur Debatte. Diese hätten zu weiträumigen Operationen gegen gegnerische Seeverbindungen in See betankt werden können, was im Zweiten Weltkrieg ja bei Über- und Unterwasserstreitkräften durchgeführt wurde. Großbritannien, das vor dem Ersten Weltkrieg teilweise zur Ölfeuerung überging, hätte dazu den besseren Zugang zu Ölquellen gehabt. Deutschland, das genügend Kohle, aber so gut wie keine Erdölquellen hatte, hielt noch an der Kohlefeuerung, auch wegen der Schutzwirkung gefüllter seitlicher Kohlenbunker, fest. Immerhin sind vor dem Ersten Weltkrieg nicht nur die Kessel der neuesten Schlachtschiffe teilweise schon für Ölfeuerung konstruiert worden, man plante bereits den Einbau großer Marsch-Dieselmotoren, wofür Deutschland zwar einen technologischen Vorsprung besaß, die jedoch bis 1914 konstruktiv noch nicht ausgereift waren. Das brachte bei dem enormen Ölbedarf großer Schiffe Nachschubprobleme mit sich. Man konnte in Friedenszeiten gewisse Vorräte anlegen, bei längerer Dauer und bei den hohen Erfordernissen eines Krieges wäre ungestörter Zugang zu Ölförderstätten erforderlich gewesen. Die waren damals nur auf dem Balkan (Rumänien) zu haben; ein Engagement Deutschlands in Richtung auf dieses politische Wespennest hätte den Krieg aber mit großer Wahrscheinlichkeit auch ohne Sarajewo ausgelöst. Wie schnell man da an den Rand eines Krieges gelangen kann, zeigt der deutsche Vorstoß in Richtung auf die Ölfelder von Mesopotamien mit dem Bau der Bagdad-Bahn, durch den sich Briten und Franzosen, die dieselben Ambitionen hatten, erheblich gestört fühlten. Zum Glück fanden sich geschickte Diplomaten auf beiden Seiten, die eine Lösung zur Kriegsvermeidung fanden: die letzten 150 km sollen von den Briten gebaut werden.
Eine andere Alternative als Schlacht- oder Kreuzerflotte sah man in Deutschland nicht, es sei denn, man verzichte als Exportnation und Weltmacht auf eine maritime Sicherung, was den empörten Widerstand gerade der seit 1848 politisch fortschrittlichen bürgerlich-liberalen Kreise, die sich nun teilweise zur mächtigen Großindustrie gemausert hatten, hervorgerufen hätte. Darüber hätten sich nur ultra-konservative Kreise gefreut, die meinten, der Alte Fritz habe auch keine Marine gehabt und doch seine Kriege gewonnen. Man übersah dabei, daß es keine Garantien dafür gibt, einen Alten Fritz an der Spitze zu haben, und daß es selbst diesem nur ganz, ganz knapp gelungen war, mit letzter Kraft über die Runden zu kommen.
Daß die Briten im Weltkrieg ihren Gegner aushebeln konnten, indem sie in ihrer dafür bestens geeigneten geopolitischen Lage gar nicht angriffen, sondern eine für die deutsche Schlachtflotte kaum erreichbare Fernblockade errichteten und diese mit ihren schönen Schiffen in den Häfen auch moralisch verrosten ließen (Skagerrak war mehr ein Versehen britischerseits und kostete einen bitter hohen Preis), steht auf einem anderen Blatt. Daß die von Tirpitz konzipierte und vom Kaiser schließlich - trotz in Ansätzen besserer Einsicht - verantwortete Schlachtflotte zu stark war, um die Briten nicht zu provozieren, zu schwach, um sie abzuschrecken, und zu defensiv, um sie zum Frieden zu zwingen, ist nicht ohne Tragik.
Und zum Abschluss dieses ins Stammbuch
Rüstungswettlauf der Kontinentalmächte
Natürlich hätten die für Flotte, Hafenbau, Stützpunkt Ostasien (Tsingtau) aufgewendeten Gelder auch dem Heer zugute kommen können. Denn auch auf dem Gebiet der Heerestruppen fand - was oft übersehen wird - ein Rüstungswettlauf statt, bei dem sich Deutschland im Verhältnis zu Frankreich und Rußland deutlich zurückhielt. Von 1902-1913 war der Rüstungshaushalt (Heer und Flotte) des Deutschen Reiches niedriger als der von Frankreich und England, 1913 entfielen pro Kopf der Bevölkerung in Frankreich 33,5 Mark auf Rüstungsausgaben, in England 32,9, in Deutschland 31,3 Mark. Um 1893 hatte Frankreich ein Heer von 550000 Mann, das sind 1,43% der Bevölkerung von 38,5 Mill., im Frieden unter Waffen, die Kriegsstärke betrug 4,053 Mill. Mann. Das mit Frankreich durch ein Militärabkommen verbündete Rußland verfügte zur gleichen Zeit im Frieden über ein Heer von 894000 Mann bei 126,35 Mill. Einwohnern (0,71%) und im Falle des Krieges 4,56 Mill. Soldaten. Deutschland hatte bei rund 50 Mill. Einwohnern im Frieden 584000 Soldaten (1,17%), im Kriege 4,3 Mill. Die österreichisch-ungarische Armee umfaßte bei einer Bevölkerung von 41,4 Mill. im Frieden 342000 (0.83%), im Kriege 1,61 Mill. Mann. In einem Kriege der beiden Koalitionen hätten also 8,5 Mill. Russen und Franzosen 5,9 Mill. der Mittelmächte gegenübergestanden (England und Italien als unsichere Partner sind hier nicht berücksichtigt).
1914 entsprach die Friedensstärke der französischen Armee 2% der Bevölkerung, in Deutschland 1,15%. Dieses führte 1893 versuchsweise und 1905 endgültig statt der allenthalben üblichen dreijährigen Dienstpflicht für Fußtruppen die zweijährige ein, was sich qualitativ durchaus bewährte. Allerdings hatten in Deutschland bei Kriegsausbruch von 10 Millionen Wehrpflichtigen im Alter von 21 bis 46 Jahren über 5 Millionen "nicht gedient", waren also nicht ausgebildet. Ein merkwürdiges Verhalten, wenn man einen Krieg gegen eine übermächtige Zweifrontenkoalition anzetteln will!
Nach einer 1912 vom deutschen Reichstag beschlossenen Heeresvermehrung sollte die Friedensstärke des deutschen Heeres - bei einer Einwohnerzahl von 67 Millionen - 800000 Mann betragen (1,15%, was bis 1914 nicht erreicht wurde), Österreich-Ungarn hatte 480000 Mann, Rußland bei Kriegsbeginn 1,4 Mill. und Frankreich 800000 Mann unter Waffen.
Trotz der Drohung eines Zweifrontenkrieges hat Deutschland vor 1914 seine Volkskraft militärisch nicht voll ausgeschöpft und seine Bevölkerung am wenigsten mit Rüstungsausgaben belastet. Nebenbei belastete auch am wenigsten Schuldendienst die deutschen Etats, und Deutschland gab als einziges der größeren Länder 3% des Haushalts für soziale Zwecke (Zuschuß zu Sozialversicherungen) aus.
Von welcher Qualität die deutschen Streitkräfte 1914 insgesamt - Armee und Marine - waren, zeigte der Verlauf des Ersten Weltkrieges. Führung, Ausbildung, Ausrüstung und Waffentechnik, nicht zuletzt ihre Kampfmoral waren derart, daß die wirtschaftliche und militärische Kraft von nach und nach fast 50 Nationen 4 Jahre brauchte, um die verbündeten Armeen Deutschlands, Österreich-Ungarns, Bulgariens und des Osmanischen Reiches (diese Verbündeten mußten von Deutschland materiell und personell noch gestützt werden) vor allem durch Aushungerung und Blockade in die Knie zu zwingen.
Das Deutsche Reich - de facto eine Weltmacht
Aus all dem dürfte hervorgehen, daß das Deutsche Reich 1914 nicht einen Krieg anzuzetteln brauchte, um nach der Weltmacht zu greifen, weil es längst eine Weltmacht war und zu den mächtigsten Staaten der Erde gehörte (nicht zu vergleichen mit dem Status der heutigen Bundesrepublik Deutschland, die hinter England, Frankreich und Japan nur einen mittleren Rang einnimmt, von den Supermächten USA und Rußland ganz abgesehen). Warum sollte der Kaiser diese Stellung aufs Spiel setzen und einen Krieg "anzetteln"? Wohin wollte man expandieren, wollte man das Reich im Osten erweitern oder/auch im Westen? Am Beispiel Österreich hatte man doch die Probleme eines Vielvölkerstaats vor Augen. Die Loyalität der Polen in der Provinz Posen und die der Elsaß-Lothringer im Westen zu erhalten war schon mühsam genug. Es ging 1914 darum, den errungenen Status zu bewahren und mit allen Kräften, schließlich auch mit den Waffen zu verteidigen.
Wie immer man das politische Verhalten der deutschen Spitzenpolitiker einschließlich des Kaisers und des Generalstabs vor dem Ersten Weltkrieg beurteilen mag, welche Fehler sie im einzelnen auch immer gemacht haben mögen, ihre Politik war im Grundzug defensiv und konnte nicht anders sein, weil sie nichts zu gewinnen und alles zu verlieren hatten.
Ich zitiere so ausführlich, da der Autor genau das schreibt, was ich auch gerne adäquat ausdrücken würde, er bekommt es nur weitaus besser hin. Man muss auch dem Überlegenen Achtung zollen.