AW: Schöne deutsche Gedichte
Zitat:
Zitat von
BrüggeGent
BERLIN
Christian Morgenstern
Ich liebe Dich bei Nebel und bei Nacht
Wenn Deine Linien ineinanderschwimmen
,zumal bei Nacht,wenn Deine Fenster glimmen
und Menschheit Dein Gestein lebendig macht.
Was wüst am Tag,wird rätselvoll im Dunkel,
wie Seelenburgen stehn sie mystisch da,
die Häuserreihen mit ihrem Lichtgefunkel,
und Einheit ahnt,wer sonst nur Vielfalt sah.
Der letzte Glanz erlischt in blinden Scheiben,
in seine Schachteln liegt ein Spiel geräumt,
gebändigt ruht ein ungestümes Treiben,
und heilig wird, was so voll Schicksal träumt.
Erstaunlich, nicht wahr? Ein heutiges aktuelles Thema, von Herrn Morgenstern extrem fokussiert dargestellt in einem kurzen Satz.
Der Gegensatz von Vielfalt und Einheit beschreibt unsere durch unbeherrschte (Doppelsinn!) Zuwanderung bedrohte deutsche Gesellschaft. Das merke ich mir. Den Linken und den Grünen mit Christian Morgenstern kommen hat einen ganz besonderen Reiz.
EINHEIT STATT VIELFALT
danke, Herr BrüggeGent, für diesen Anstoß :-) :hi:
AW: Schöne deutsche Gedichte
An die Melancholie
Du geleitest mich durchs Leben,
Sinnende Melancholie !
Mag mein Stern sich strahlend heben,
Mag er sinken - weichest nie !
Führst mich oft in Felsenküste,
Wo der Adler einsam haust,
Tannen starren in die Lüfte
Und der Waldstrom donnernd braust.
Meiner Toten dann gedenk ich,
Wild hervor die Träne bricht,
Und an deinen Busen senk ich
Mein umnachtet Angesicht.
Nikolaus Lenau ( 1802 - 1850 )
AW: Schöne deutsche Gedichte
Mit gelben Birnen hänget
Und voll mit wilden Rosen
Das Land in den See,
Ihr holden Schwäne,
Und trunken von Küssen
Tunkt ihr das Haupt
Ins heilignüchterne Wasser.Weh mir, wo nehm ich, wenn
Es Winter ist, die Blumen, und wo
Den Sonnenschein,
Und Schatten der Erde?
Die Mauern stehn
Sprachlos und kalt, im Winde
Klirren die Fahnen.
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Friedrich Hölderlin (1770-1843), „Hälfte des Lebens“
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Zitat:
Schon ins Land der Pyramiden
Flohn die Störche übers Meer;
Schwalbenflug ist längst geschieden,
Auch die Lerche singt nicht mehr.
Seufzend in geheimer Klage
Streift der Wind das letzte Grün;
Und die süßen Sommertage,
Ach, sie sind dahin, dahin!
Nebel hat den Wald verschlungen,
Der dein stillstes Glück gesehn;
Ganz in Duft und Dämmerungen
Will die schöne Welt vergehn.
Nur noch einmal bricht die Sonne
Unaufhaltsam durch den Duft,
Und ein Strahl der alten Wonne
Rieselt über Tal und Kluft.
Und es leuchten Wald und Heide,
Daß man sicher glauben mag,
Hinter allem Winterleide
Lieg' ein ferner Frühlingstag.
Die Sense rauscht, die Ähre fällt,
Die Tiere räumen scheu das Feld,
Der Mensch begehrt die ganze Welt.
Und sind die Blumen abgeblüht,
So brecht der Äpfel goldne Bälle;
Hin ist die Zeit der Schwärmerei,
So schätzt nun endlich das Reelle!
Theodor Storm
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Siebenbürgische Elegie
Anders rauschen die Brunnen, anders rinnt hier die Zeit.
Früh faßt den staunenden Knaben Schauder der Ewigkeit.
Wohlvermauert in Grüften modert der Väter Gebein,
Zögernd nur schlagen die Uhren, zögernd bröckelt der Stein.
Siehst du das Wappen am Tore? Längst verwelkte die Hand.
Völker kamen und gingen, selbst ihr Namen entschwand.
Aber der fromme Bauer sät in den Totenschrein,
Schneidet aus ihm sein Korn, keltert aus ihm seinen Wein.
Anders schmeckt hier der Märzenwind, anders der Duft von Heu,
Anders klingt hier das Wort von Liebe und ewiger Treu.
Roter Mond, vieler Nächte einzig geliebter Freund,
Bleichte die Stirne dem Jüngling, die der Mittag gebräunt.
Reifte ihn wie der gewaltige Tod mit betäubendem Ruch,
Wie in grünlichem Dämmer Eichbaum mit weisem Spruch.
Ehern, wie die Gestirne, zogen die Jahre herauf,
Ach, schon ist es September. Langsam neigt sich ihr Lauf.
Adolf Meschendörfer, 1927
Kronstadt, * 8.5.1877, † 4.7.1963
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Lied im Freien
Wie schön ist's im Freien!
Bei grünenden Maien
Im Walde, wie schön!
Wie süß, sich zu sonnen,
Den Städten entronnen,
Auf luftigen Höhn!
Wo unter den Hecken
Mit goldenen Flecken
Der Schatten sich mischt,
Da lässt man sich nieder,
Von Haseln und Flieder
Mit Laubduft erfrischt.
D´rauf schlendert man weiter,
Pflückt Blumen und Kräuter
Und Erdbeere im Gehn;
Man kann sich mit Zweigen,
Erhitzet vom Steigen,
Die Wangen umwehn.
Dort heben und tunken
Gleich blinkenden Funken,
Sich Wellchen im Bach:
Man sieht sie verrinnen
In stillem Besinnen,
Halb träumend, halb wach.
In weiten Bezirken,
Mit hangenden Birken
Und Buchen besetzt,
Gehn Dammhirsch und Rehe
in traulicher Nähe,
Von niemand gehetzt.
Am schwandeknen Reisig
Hängt zwischernd der Zeisig,
Vor Schlingen nicht bang;
Erfreut, ihn zu hören,
Sucht keiner zu stören
Des Hänflings Gesang.
Hier sträubt sich kein Pförtner,
Hier schnörkelt kein Gärtner
Kunstmäßig am Hain:
Man braucht nicht des Geldes;
Die Blumen des Feldes
Sind allen gemein.
Wie schön ist's im Freien!
Despoten entweihen
Hier nicht die Natur.
Kein kriechender Schmeichler,
Kein lästernder Heuchler
Vergiftet die Flur.
Johann Gaudenz von Salis-Seewis ( 1762 - 1834 )
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Die versunkene Glocke bei Kerz
Bei Kerz da ragen düster
die Trümmer der Abtei.
Ein Teich im Schilfgeflüster
der glitzert nah'dabei;
draus tönt es wundersam empor
und schwingt und klingt durch
Schilf und Rohr
am heiligen Ostermorgen.
Wenn früh die Sonne steigend
sich spiegelt in der Flut,
in Sabbatfeier schweigend
ringsum die Erde ruht;
dann wacht es in der Tiefe auf,
dann summt es wundersam herauf
am heiligen Ostermorgen.
Einst klang sie hoch vom Turme
die Glocke der Abtei,
da braust's heran im Sturme
mit wildem Kriegsgeschrei;
ergrimmte Heiden ohne Zahl-
die Glocke klang zum letztenmal
Vom Turm am Ostermorgen.
Der Christenfeind,der Grimme,
er stürzte sie hinab;
da tönt nun ihre Stimme
aus tiefem Flutengrab.
Ein Kind, noch rein von Sündenschuld
das hört sie, wie sie klingt in Huld,
am heiligen Ostermorgen.
Traugott Teutsch (1829 - 1913)
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Die zerfallene Burg
In Trümmern liegt die Burg danieder,
Ihr Stern erlosch im Lauf der Zeit,
Verhallt im Wind sind auch die Lieder
Zum Preise ihrer Herrlichkeit.
Halb dürre Efeuranken sprießen
Ums Wappen, das schon längst zerschellt,
Und wessen Nam’ hier ward gepriesen,
Was kümmert es die heutige Welt?
Vergeblich wären alle Fragen,
Wer hier geliebt, gehaßt, gelebt? —
Ins Blau die stummen Zinken ragen,
Am Wappenschild der Epheu bebt.
Der Wind zaust an den gelben Blättern;
Bald da, bald dorten eines fällt,
Spurlos verweht in Wind und Wettern,
Im allgemeinen Chaos Welt.
Demetrius Schrutz, 1895
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Herbst-Gleichnis
Fliegende Blätter,
goldbraun im Wind;
wie sie uns doch ähnlich sind!
Kernig im Stamm,
stark das Geschlecht;
weiter lebt, was arttreu und echt.
Siegreicher Frühling,
grünende Bäume;
alles liebt die seligen Träume.
Über das Blühen,
zitternd voll Lust;
schwirren Insekten in lauer Luft.
Trächtiger Sommer,
füllig das Leben;
reife Frucht bring reichen Segen.
Stürmischer Herbst,
Endzeit im Jahr;
Wer es erlebt, dem wird es gewahr:
" Nicht allein Blätter
werden zu Laub;
jede Form zerfällt zu Staub."
Wechselnde Zeiten:
" Trauer und Wonne";
sind beständig unter der Sonne.
Fliegende Blätter,
goldbraun im Wind;
wie sie uns doch ähnlich sind !
Gerhart Wilke
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Der Birnenbaum
Von einem alten Birnenbaum
berichtet uns die Sage
er steht allein in Feldes Raum
ein Denkbild alter Tage.
Ihn pflanzten unsere Väter noch
wie sie ins Land gezogen
dann war der Baum so stark und hoch
der Wipfel breit gebogen.
Berührte Ihn des Lenzes Hauch
hat er sein Laub getrieben
und kam der Herbst so ist er auch
nie ohne Frucht geblieben.
Und seine Frucht war süß und gut
so alt der Baum geworden
so oft ihn auch des Sturmes Wut
berauscht von Süd und Norden.
Sie haben oft den Feuer´s Brand
an seinen Stamm gehalten
sie nahmen oft die Axt zur Hand
den Baum entzwei zu spalten.
Umsonst! Er stand doch frisch belaubt
beschattete die Heide
und wenn sie seine Frucht geraubt
trug andere er mit Freuden.
Ob mancher Zweig noch heut verdirbt
er treibt stets neue Glieder
Für wen der Baum von innen stirbt
dann grünt er nimmer wieder.
Michael Albert (*1836 in Trappold, †1893 in Schäßburg