Von einer "Verrohung der Sitten" schreibt die Welt über ein abgebrochenes Konzert in der Kölner Philharmonie, wo ein iranischer Cembalist, der mit Concerto Köln zusammen konzertierte, wohl so vom Publikum gestört wurde, daß er sein Stück abbrechen mußte.
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Aus Stuttgart kann ich ähnliches berichten. Immer häufiger wird gestört, gestöhnt, gepfiffen, falsch reingeklatscht usw. So als würde man sich im Musical im SI Centrum befinden und nicht in einem klassischen Konzert, wo es gewisse Regeln gibt. Das Lustprinzip greift immer weiter um sich. Was mir nicht gefällt, wird ausgebuht oder ich verlasse einfach den Saal mitten im Werk, was zu anstrengend ist, dem setze ich mich gar nicht mehr aus.
Daß hierduch die Konzentration der Künstler und auch der Spannungsbogen, die Atmosphäre gestört werden, ist dem Zuschauer immer häufiger egal, was nicht sofort gefällt oder "verstanden" wird, wird sofort abserviert.
Sicher zeigt sich hier nicht nur eine Verrohung des Publikums, sondern auch eine zunehmende Entfremdung des Künstlers von seinen Hörern. Warum wird eine Einführung des Werkes nur auf Englisch gegeben? Warum wird nicht übersetzt? Welche Arroganz steckt dahinter, einfach vorauszusetzen, daß in Deutschland jeder Mensch Englisch spricht? Das kann man vielleicht in einem Gemeindehaus in Remscheid machen, aber nicht in der Kölner Philharmonie.
Ein weiterer Grund dürfte die Art sein, wie dem Zuhörer heute Barockmusik überhaupt nur noch präsentiert wird. Schon seit Jahrzehnten versucht die "authentische Aufführungspraxis" dem Hörer auf belehrende Art vorzuschreiben, was die "eigentlich einzig richtige Art" sei, die großen Werke von Bach usw. zu spielen. Der Anspruch dieser Bewegung war von Anfang an ein absoluter und der bescheidenen Zuhörer, der Nicht-Profi, mußte sich erzählen und erklären lassen, was "richtig" sei und was "falsch". Es ging nie darum, was ihm subjektiv gefällt und was nicht.
Das hat der Konzertbesucher zwar auch gegelaubt und akzeptiert, aber was bekam er geliefert?
In den meisten Fällen einen kaum differenzierten Klangbrei, indem Stimmen nicht mehr herauszuhören sind, in dem viele solistischen Streicher oder Holzbläser einfach mangels Lautstärke gegenüber den Sängern hoffnungslos untergingen, in dem wichtige Teile der Struktur nicht mehr erkennbar waren, in Klein-Besetzungen und atemlosen Tempi, wo Werke wie die Matthäuspassion jegliche Dramatik verloren, die aber angeblich "authentisch" sein sollten.
Wer heute noch auf Youtube sieht, wie andächtig und ergriffen die Hörer früher bei den Ansbacher Bachwochen einem Richter gelauscht hatten, wie beeindruckt sie von einer h-moll-Messe waren, und wer das mit heute vergleicht, der wird wohl konstatieren müssen, daß die mangelnde Begeisterung der Zuhörer auch mit der Aufführungspraxis zusammenhängt.
Belehren ließ sich der Konzertbesucher zwar, gefallen hat es ihm im Unterbewußtsein aber trotzdem nicht.
Und wenn dann noch ellenlange und eintönige Minimal music von Reich oder Glass auf dem Programm steht, dann schwappt der Unmut bzw. die Langeweile eben über. Insofern sollten auch die klassischen Musiker mal darüber nachdenken, wie sie das Publikum wieder für ein Werk begeistern können, und weniger darüber, welches nun die absolut "korrekte" weil originalgetreue Aufführungspraxis sei. Ein Aufführungsziel, das meiner Meinung schon vom Ansatz her falsch ist.
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