Zitat Zitat von Kurchatov Beitrag anzeigen
Die Nation ist das Bindeglied zwischen Staat und Volk. Während das Volk als urwüchsige Gemeinschaft angeblich aus den Stämmen und Familienverbünden als natürliche Einheit hervorgegangen ist, kann der Staat für sich durch sein Erscheinen keine Natürlichkeit, sondern nur Notwendigkeit behaupten. Das Volk kommt in der Nation zu sich, als historisches, politisches Kollektivsubjekt, das mit dem Staat das nötige Werkzeug für sein Handeln errichtet.
Schon das ist falsch.

Die Nation überwindet die Clan-Gesellschaft, indem sie Clan- und Stammesrecht nivelliert, und dem archaischen und oft brutalen Stammesrecht eine rechtsstaatliche Ordnung überordnet. Die Nation befreit das Individuum von den Zwängen der Clan-Ordnung, indem sie jedem Angehörigen der Nation nominell gleiche Rechte garantiert.

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Aber was ist überhaupt ein Clan? „Unter Clan ist eine soziale Einheit zu verstehen, deren Mitglieder sich einem gemeinsamen realen oder fiktiven Vorfahren verbunden fühlen, deren Mitglieder aber im Unterschied zur Lineage die genealogischen Stufen zum gemeinsamen Vorfahren und die verwandtschaftlichen Verbindungen untereinander nicht lückenlos angeben können.“ So eine wissenschaftliche Definition des Ethnologen Bernt Glatzer, der sich vor allem mit dem Stammessystem in Afghanistan beschäftigt hat. Nach Glatzer gibt es einen Stamm, der sich real oder fiktiv von einem gemeinsamen Vorfahren ableitet, dieser gliedert sich in verschiedene Clans, der Clan in verschiedene Untergruppen und diese wieder in verschiedene Großfamilien oder Sippen. Die Position in diesem System ergibt sich über die gemeinsame Abstammung. Wenn man in diesem Zusammenhang von Familie spricht, hat das mit Familie im europäischen Sinne aus Mutter, Vater, Kind wenig zu tun. Vielmehr geht es um eine politische Organisation, die hunderte oder gar tausende oder sogar zehntausende von Personen mit Hierarchien, Machtstrukturen, Besteuerungs- und Umverteilungsmechanismen umfassen kann. In Europa ist eine solche Erscheinung noch am ehesten mit der sizilianischen Mafia vergleichbar.

Der Clan ist eine prämoderne Organisationsform. Wenn man sie nach heutigen westlichen Kategorien beurteilt, erkennt man eine totalitäre Erscheinung. Es gibt keine Austrittsoption, auch das Privateste wird noch durch Vorschriften geregelt. Soziale Abweichungen werden hart sanktioniert und zuweilen mit dem Tode bestraft. Das Kollektiv ist in diesem System alles, der einzelne nichts. Glaube, Heirat, Denken, Fühlen, Verhalten, Kleidung, Lebensziele – alles ist einer hierarchischen Reglementierung unterworfen. Da die Kritik an Herrschaft meist auf den Staatsbegriff fixiert ist, fallen Unterdrückungssysteme wie die aus westlicher Sicht archaischen Gesellschaften in der Analyse oft durchs Raster. Die Bedrohung für die Freiheit des Einzelnen durch die Tendenz zum Stammestum wird unterschätzt oder nicht gesehen, weil hier scheinbar die Staatskritik nicht greift.
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