Humanismus ist ein Aberglaube
Der britische Philosoph John Gray über den Fortschrittsmythos, die Suche nach dem Sinn der Geschichte und den menschlichen Hang zur Selbstzerstörung
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SPIEGEL: Dennoch klingt das sehr pessimistisch, zweihundert Jahre nach der europäischen Aufklärung. Sind Sie ein Misanthrop in der Tradition des deutschen Griesgrams Arthur Schopenhauer?
Gray: Ich sehe mich eher in der Tradition des gelassenen Skeptikers Michel de Montaigne. Aber Sie haben recht: Die erste und vielleicht noch immer unübertroffene Kritik des Humanismus hat Schopenhauer vorgetragen. Er glaubte nicht an die universelle Emanzipation des Menschen, wie es der Zeitgeist Mitte des 19. Jahrhunderts verhieß.
SPIEGEL: Man könnte auch sagen, er war ein reaktionärer Einzelgänger, einer der ersten Neoliberalen.
Gray: Er erwartete wenig vom Staat außer Sicherheit des Lebens und Schutz des Eigentums, ja. Aber man muss seinen Charakter von seinem Denken unterscheiden. Was für uns, vor allem für die Linke, in Europa und noch mehr in Amerika so schwer erträglich scheint, ist sein Leugnen einer übergreifenden Logik, eines höheren Sinns in der Geschichte. Diese Auffassung teile ich.
SPIEGEL: Und welche Konsequenzen ziehen Sie daraus?