Die Türkei, die Juden und der Holocaust
Die Errichtung des türkischen Nationalstaates unter der Führung von Kemal Atatürk bedeutete für
die Juden, dass sie - wie auch andere Minderheiten, so die Kurden und die Armenier - Bürger zweiter Klasse blieben, obwohl die Verfassung die rechtliche Gleichstellung aller Bürger proklamierte und obwohl Juden in der Anfangsphase der jungtürkischen Bewegung eine wichtige Rolle gespielt hatten. ... Ein anderer, großer Teil emigrierte nach Gründung der Republik. Exakte Zahlen sind nicht zu ermitteln, aber Guttstadt schätzt,
dass die jüdische Gemeinde in der Zwischenkriegszeit die Hälfte ihrer Mitglieder verlor und nur noch etwa 80.000 Personen umfasste.
Hitlers Machtübernahme stieß in der türkischen Öffentlichkeit und in der Regierung überwiegend auf Sympathien. ...
Angesichts der eher freundschaftlichen Beziehungen zwischen Hitler-Deutschland und der Türkei, an deren Spitze bis zu seinem Tod 1938 Kemal Atatürk stand, wirkt es paradox, dass prominente Gegner des Dritten Reiches, an ihrer Spitze Ernst Reuter, dort Zuflucht fanden, mehr noch, dort mit offenen Armen aufgenommen wurden. ...
Sie kann zeigen, dass die Türkei nur aus Nützlichkeitserwägungen Fachleute wie Reuter aufnahm, zugleich aber vielen anderen Flüchtlingen die Einreise, ja sogar den Transit verweigerte. Nur 500-600 Juden aus "Großdeutschland" fanden legal Exil in der Türkei.
In den 1930er-Jahren nahmen die Angriffe auf und die Diskriminierung von Juden in der Türkei zu. Vorrangig war dies der Radikalisierung des türkischen Nationalismus geschuldet. ... Die Regierung trat antijüdischen Übergriffen auf Geschäfte und Wohnhäuser nicht entgegen. Im Gegenteil: Zwischen 1941 und 1944 erließ sie zwei Maßnahmen gegen nichtmuslimische Minderheiten, von denen Juden besonders stark betroffen waren: eine enteignungsgleiche Vermögenssteuer und Zwangsarbeitsdienst. ...
Von 1938-1940 untersagte die Türkei grundsätzlich nicht nur die Einreise, sondern auch den Transit von Juden, während zugleich um türkisch-muslimische Einwanderer aus den Balkanstaaten geworben wurde.
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Im NS-besetzten Europa lebten mehrere tausend Juden mit türkischen Personalpapieren. 1942 stellte Deutschland der Türkei das Ultimatum, sie entweder zu repatriieren oder deren "Einbeziehung in die allgemeinen Judenmaßnahmen" zuzustimmen. Dass dies Gefahr für Leib und Leben bedeutete, konnte die türkische Regierung bei Interesse durchaus wissen, auch ohne die Details der Vernichtungslager zu kennen. Dennoch verweigerte sie in den allermeisten Fällen die Repatriierung, weil es sich um Juden handelte. Dies gilt auch dann, wenn alle Papiere in Ordnung und neueren Datums waren. ...