Der arabische Zirkel
US-Präsident Bush sieht nach der Wahl im Irak ein neues Zeitalter der Demokratie heraufdämmern. Doch der Erfolg des Projekts setzt vor allem eines voraus: mehr Sicherheit. Bei den Nachbarn ist das Echo auf den Urnengang gemischt - nur wenige Länder dürften dem Beispiel Bagdads folgen.
Alle seine Nachbarn zur Rechten haben die Wahl boykottiert. Die ganze Straße hinunter bis zur Adhamija-Moschee im Herzen des sunnitischen Bagdad: Kein Mensch ist an diesem Sonntag vor der Tür. Genau das hatte er vorausgesagt, genau das hatte er seinen Anhängern empfohlen.
Doch auch links der Tigris-Villa von Dr. Wamid Nadhmi ist das Viertel überwiegend von Sunniten bewohnt. Und je länger der Wahltag sich hinzog, desto ungläubiger staunte der Parteichef der "Nationalen Arabischen Bewegung" beim Blick über den Gartenzaun: Die Leute gingen tatsächlich zur Wahl. Bei weitem nicht alle, doch immer mehr, je näher der Abend kam.
Ein Wahlergebnis lag bis zum vergangenen Donnerstag nicht vor, doch eines stand bereits vier Tage nach dem Urnengang fest: Etwa acht Millionen Iraker haben von ihrem Stimmrecht Gebrauch gemacht, rund 60 Prozent der Wahlberechtigten, die meisten im kurdischen Norden und im schiitischen Süden des Landes. Die Beteiligung im sunnitischen Zentral-Irak liegt beträchtlich darunter, doch der befürchtete Total-Boykott ist auch dort ausgeblieben. "Es gibt keine Stadt, aus der wir überhaupt kein Ergebnis haben", stellte Farid Ajar, Sprecher der Wahlkommission, fest.
Den Sunniten Nadhmi hat die hohe Wahlbeteiligung doppelt überrascht - als Wissenschaftler wie als Politiker. Der ehemalige Politikprofessor an der Universität Bagdad, schon unter Saddam ein kritischer Geist, führt eine Bewegung irakischer Panarabisten an. Zusammen mit sieben anderen überwiegend sunnitischen Parteiführern hatte er im November zum Boykott aufgerufen und bei Uno-Generalsekretär Kofi Annan für einen Aufschub der Wahl plädiert.
Die Realität hat ihn überholt. "Weite Teile der Gesellschaft haben dieses Angebot angenommen", räumt Nadhmi heute ein. "Wir können sie nicht alle als Imperialisten abstempeln."
Auf genau diesen Effekt hatten die Amerikaner gehofft. US-Präsident George W. Bush, der die Wahlen mit seiner Frau im Fernsehen verfolgte, feierte die erste gute Nachricht aus Bagdad seit Saddam Husseins Festnahme mit großen Worten: "Das irakische Volk hat zur Welt gesprochen, und die Welt hört die Stimme der Freiheit aus dem Zentrum des Nahen Ostens."
Am Morgen darauf konnte Bush es sich nicht verkneifen, zwei der hartnäckigsten Gegner des Irak-Kriegs anzurufen - erst Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac, danach Bundeskanzler Gerhard Schröder. Die beiden, so schlug Bush vor, sollen nun nach der Wahl verstärkt bei der Ausbildung irakischer Sicherheitskräfte helfen.
Bush, der glaubt, erst die Geschichte werde angemessen und gerecht über seine Präsidentschaft urteilen, fühlt sich bestätigt: Wahlen in Afghanistan, Wahlen in Palästina, nun die Wahlen im Irak - der demokratische Umbruch im Nahen Osten scheint eine Frage der Zeit. Den Menschen die Freiheit zu bringen, hat er gesagt, sei "Teil meiner Präsidenten-Gene".
Weitere Kriege, so lässt er gnädig verlauten, seien vorläufig nicht geplant, das Virus der Demokratie solle Arabiens Diktaturen ganz von allein zersetzen. In seiner Rede an die Nation mahnte Bush vor dem Kongress Mittwochabend auch bei den US-Verbündeten Ägypten und Saudi-Arabien demokratische Reformen an. Syrien und Iran geißelte der Präsident als Terrorpaten.
Allzu laut, so dämmert der Bush-Regierung, darf ihr Jubel nach der Wahl im Irak auch wieder nicht sein. Der Krieg ist in Amerika unpopulär, der Druck, zumindest Teile der 150.000-Mann-Streitmacht aus dem Irak abzuziehen, wächst täglich, selbst Parteifreunde verlangen zunehmend nach einer schlüssigen Rückzugsstrategie.
Doch dieses Ziel, auf das unabhängig vom Wahlausgang auch die neue irakische Regierung drängen wird, ist noch lange nicht in Sicht. Amerikanische Militärs halten höchstens ein paar tausend Mann der irakischen Sicherheitskräfte für zuverlässig; ohne US-Truppen und die Unterstützung von Kampfbombern haben sie bisher kein einziges Gefecht gegen die Aufständischen gewinnen können.
Auch dass Amerikas Masterplan aufgeht und die halb oder undemokratischen Regime des Nahen Ostens nun wie Kartenhäuser einstürzen könnten, ist eher eine voreilige Hoffnung. Washington habe die Macht, die Figuren auf dem politischen Schachbrett in Nahost zu verschieben, gab der US-Politologe Shibley Telhami vorige Woche zu bedenken: "Aber wir haben nicht die Macht sicherzustellen, wie sie dann fallen."
Nach Saddams ruhmlosem Ende vor zwei Jahren hatte sich durchaus Verunsicherung breit gemacht unter den Präsidenten und Monarchen der arabischen Welt. Der Terror und die Gesetzlosigkeit, die im Zweistromland dann folgten, gaben jedoch den Skeptikern recht. Das Echo der Irak-Wahl dürfte also gemischt ausfallen. Einerseits hat der Urnengang den Druck für demokratische Reformen erhöht, gleichzeitig aber die herkömmliche Legitimation der Regime bestärkt, mit harter Hand für Ruhe und Stabilität zu sorgen.
Fast alle Regierungen von Marokko bis Oman - die Arabische Liga eingeschlossen - haben sich in Lippenbekenntnissen für die Wahl im Irak ausgesprochen; keine dieser Regierungen freilich lässt ähnlich offene Abstimmungen im eigenen Land zu. Zwar finden in immerhin fünf Ländern der Region 2005 Wahlen statt. Doch nur der Ausgang der Parlamentswahl in Palästina und womöglich auch der Präsidentschaftswahl in Iran ist so offen wie der Urnengang im Irak.
In Saudi-Arabien werden von kommender Woche an die Hälfte der Gemeinderäte gewählt; Frauen sind weder als Wählerinnen noch als Kandidatinnen zugelassen. Im Libanon finden Parlamentswahlen statt, doch am versteinerten Proporzsystem, das die Machtverhältnisse an der Levante seit 1943 regelt, wird das nichts ändern.
In Ägypten, so hat er kürzlich in einem Fernsehinterview angedeutet, spielt Staatspräsident Husni Mubarak mit dem Gedanken, sich im Oktober um eine fünfte Amtszeit zu bewerben - die Bevölkerung hat nur die Wahl, ja oder nein zu sagen. Ein seriöser Gegenkandidat ist nicht zu erwarten; den Oppositionspolitiker Aiman Nur nahm die Polizei vergangenes Wochenende fest. "Das war eine Botschaft an alle Parteien, die gegen die Regierung sind", warnte dessen Ehefrau.
Das Hauptargument gegen eine durchgreifende Demokratisierung ist so einleuchtend wie lähmend: "Das irakische Modell geht in keinem arabischen Staat auf", sagt Ghassan Tuweini, Politologe und Herausgeber der Beiruter Tageszeitung "al-Nahar". Die meisten arabischen Gesellschaften seien ethnisch wie religiös vom Zerfall bedroht. "Jeder wird genau wie im Irak sein eigenes Volk, seinen Stamm oder seine Konfession wählen. Das zerreißt den Staat und führt zu Gewalt und Bürgerkrieg."
Sein Befund, so Tuweini, treffe nicht nur auf den Libanon zu, wo in 15 Jahren Bürgerkrieg zwischen Sunniten, Schiiten, Drusen und Christen mehr als 150.000 Menschen ums Leben kamen - sondern ebenso auf die schiitischen Bevölkerungsanteile im sunnitisch regierten Bahrein und in Saudi-Arabien, auf die koptische Minderheit in Ägypten, die Alawiten in Syrien, die Palästinenser in Jordanien und die Berber im Maghreb.
"Frankreich war vor 200 Jahren reifer für die Demokratie, als es die arabischen Staaten heute sind", sagt Tuweini. Es ist der arabische Zirkelschluss, mit dem die Machthaber seit Jahrzehnten ihre Herrschaft begründen: Demokratie ist etwas Gutes, doch das Volk verträgt sie nicht. Also belassen wir es beim Status quo.
Die Fernsehbilder von jubelnden und tanzenden Wählern im Irak haben Eindruck gemacht in Ägypten, Jordanien, in Syrien und am Golf - doch der Preis der Freiheit scheint auch vielen in der Bevölkerung zu hoch: Eine Mehrheit der Araber ist der Ansicht, den Irakern sei es unter Saddam besser ergangen als unter amerikanischer Besatzung. Das ergab eine Umfrage des US-Meinungsforschungsinstituts Zogby International unter 3500 Bürgern in sechs Ländern der Region.
Der Erfolg der Wahlen hängt davon ab, ob sie Stabilität schaffen - in Bagdad, im Sunnitendreieck und jenseits der Grenzen.
Zumindest drei von Iraks Nachbarstaaten sehen tiefskeptisch in die Zukunft. In Kuweit, das sich wie kein anderes arabisches Land für die US-Operation im Irak ausgesprochen hatte, häufen sich seit Monaten die Angriffe islamistischer Extremisten; bei einer Schießerei Anfang dieser Woche kamen sechs Menschen ums Leben. Das kleine Golf-Emirat braucht Saddam nicht mehr zu fürchten, doch es leidet zunehmend unter dem Terror-Magneten Irak.
Syrien, das aus Washington und Bagdad beschuldigt wird, führende Köpfe des Saddam-Regimes zu beherbergen und damit den Aufstand im Irak zu decken, sieht offenbar ebenfalls stürmische Zeiten kommen. In einem Schritt, der weithin Verwunderung auslöste, stattete Staatspräsident Baschar al-Assad Ende Januar Russland einen Besuch ab, dem alten Bündnisgenossen seines 2000 verstorbenen Vaters Hafis, eines klassischen arabischen Autokraten. Israel spekuliert, der Erzfeind im Norden wolle russische Kurzstreckenraketen kaufen. Russen wie Syrer dementierten, bestätigten aber eine Intensivierung ihrer "traditionellen Militärzusammenarbeit"; Moskau erließ Damaskus zudem einen Teil seiner Schulden.
Am deutlichsten hat sich die Türkei über die Entwicklung im Irak ausgesprochen, und Ankaras Vorstoß zielt direkt auf das Ergebnis der Wahlen. Iraks Kurden, so der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, seien dabei, die Mehrheitsverhältnisse in der ölreichen Vielvölker-Provinz Kirkuk zu verändern - zu ihren Gunsten und zum Nachteil der dort lebenden Turkmenen und Araber. Tatsächlich hat das kurdische Wahlbündnis mit voraussichtlich 70 Prozent die absolute Mehrheit in Kirkuk erreicht. "Manche schauen einfach weg, während dort eine Massenwanderung stattfindet", wurden die Amerikaner von Erdogan kritisiert, der diese Entwicklung, ja einen möglichen Separatstaat angesichts der rund 13 Millionen Kurden im eigenen Land für höchst gefährlich hält.
Die Wahlen in Kirkuk, so schrieb Außenminister Abdullah Gül an Uno-Generalsekretär Kofi Annan, stünden "in Widerspruch zu internationalem Recht". Einer türkischen Zeitung versicherte er, Ankara habe zwar keine Gebietsansprüche im Nordirak, "doch manchmal zwingen einen die Verhältnisse, gewisse Dinge zu tun, auch wenn man das eigentlich nicht will". Es ist lange her, dass Ankara einem Nachbarn so offen mit Krieg gedroht hat. Angeblich existieren bereits seit Monaten Pläne türkischer Militärs für eine 20 000 Mann starke Invasion im Norden des Irak.
Die Türken haben es in Bagdad nun allerdings mit einer gewählten Regierung zu tun, und die Rückkehr der von Saddam aus Kirkuk vertriebenen Kurden ist ein in der irakischen Übergangsverfassung festgeschriebenes Recht. Jahrelang waren die Leiden der Kurden von den Amerikanern als Grund für die Militärintervention im Irak bemüht worden; sich nun als Störenfriede im föderalen Irak denunzieren zu lassen ist für die Kurden inakzeptabel.
Washington, auf dessen Beistand Ankara hoffen mag, kann den Türken nicht entgegenkommen, will es seine Glaubwürdigkeit als Förderer der Demokratie nicht aufs Spiel setzen.
Für die Kurden indes stellt sich die Frage, ob die neugewählte Regierung die Abmachungen aus der Besatzungszeit einhält und auch wirklich im neu zu schreibenden Grundgesetz verankert.
Denn auf beide Kurdenparteien im Nordirak wächst der Druck der Straße. Es mehrt sich die Kritik an den eigenen Politikern; parallel zu den Wahlen ließ die unabhängige "Kurdistan-Referendum-Bewegung" über den Wunsch nach Unabhängigkeit abstimmen.
"Das kurdische Volk hat ein Recht auf einen eigenen Staat", bekannte Kurdenführer Massud Barsani. Sein Gefolgsmann Hoschjar Sebari, Außenminister der irakischen Übergangsregierung, hingegen setzt auf eine gemeinsame Zukunft mit Bagdad: "Die kurdischen Führer haben ganz klar gemacht, dass wir einen geeinten, föderalen und pluralistischen Irak wollen."
CAROLIN EMCKE, GEORG MASCOLO, VOLKHARD WINDFUHR, BERNHARD ZAND