Demokratie hinter Panzersperren


Für Washington sind die Wahlen im Irak ein Meilenstein auf dem Weg in die Freiheit, für die Iraker ein weiterer Schritt in den Bürgerkrieg

Von Ulrich Ladurner

Es gibt viele Iraker, die glauben, der meist gesuchte Terrorist im Irak, Musab al-Sarqawi sei ein amerikanischer Agent. Das klingt verrückt, und deshalb lässt es sich schnell abtun: Verschwörungstheorie! Nichts weiter. Solche Narreteien kennt man aus dem arabischen Raum.

Es gibt viele Iraker, die denken, dass Ministerpräsident Ijad Allawi eine Marionette der US-Regierung sei. Das klingt schon ein bisschen weniger verrückt, jedenfalls würden viele Europäer dem bereits zustimmen. Trotzdem kann man es wegwischen, zumindest als Halbwahrheit.

Es gibt viele Iraker, die glauben, die von der US- Armee rekrutierten und ausgebildeten irakischen Soldaten seien nichts weiter als Klone der GIs. Diese Soldaten tragen nämlich Sonnenbrillen. Das würde ein echter irakischer Soldat nicht tun. Diese Soldaten tragen auch ihre Kalaschnikows in der Art wie die US-Soldaten ihre M16-Sturmgewehre, was sehr linkisch wirkt.

Warum das wichtig ist? Weil die Iraker am 30. Januar eine Nationalversammlung wählen. Die soll dann bis zum Herbst 2005 eine Verfassung schreiben. Wird sie in einer Volksabstimmung gebilligt, soll auf ihrer Grundlage 2006 ein Parlament gewählt werden. Dieses bestimmt spätestens 2006 eine neue demokratische Regierung. Das ist ein schöner Plan, aber die anstehenden Wahlen werden nur dann eine Bedeutung haben, wenn die Iraker selbst sie nicht wieder als Produkt einer neuen Machenschaft aus Washington betrachten. Wenn nämlich Washington al-Sarqawi als Terroristen jagt, die Iraker ihn aber als CIA-Agenten sehen, dann kann es durchaus sein, dass auch das große Experiment Wahlen im Irak ganz anders gesehen wird. Was Washington als Meilenstein der Befriedung betrachtet, kann aus Sicht der Iraker ein Rückschritt sein, ja ein Schritt in den Abgrund gar.

Es lässt sich mit gutem Recht behaupten, dass für die Iraker nahezu nichts dieselbe Bedeutung hat wie für die Amerikaner. Von al-Sarqawi über Allawi zur irakischen Armee – es gibt kaum noch eine Gemeinsamkeit zwischen dem Befreier und den Befreiten. Nicht mehr. Denn es gab mal eine, im April 2003. Die überwältigende Mehrheit der Iraker war glücklich über den Sturz des Diktators Saddam Hussein. Bei allem Misstrauen gegenüber Washington, die Invasion stürzte den Mann, der verhasst und gefürchtet war wie kein Zweiter.

Nun wird gewählt. Der 30. Januar soll ein Höhepunkt des Befreiungs- und Demokratisierungsprozesses sein. Es ist daher sinnvoll, die etwas mehr als 20 Monate Besatzung Revue passieren zu lassen. Diese Zeit lässt sich als die Geschichte einer dramatischen Entfremdung beschreiben. Die Folterskandale der Amerikaner von Abu Ghraib, der Briten in Basra und nun auch der irakischen Regierung sind darin besonders herausragende, weil schändliche Wegmarken, die für die Iraker eine Botschaft enthalten: Der Befreier ist ein Unterdrücker. Die amerikanische Eroberung der Stadt Falludscha im November ist nur eine Etappe dieses Prozesses. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit der Iraker hat sich von jener der Amerikaner völlig entfernt. Gestern noch schien der Sturz des Diktators für alle Iraker das Tor zu einer schwierigen, aber doch besseren Zukunft aufzustoßen, heute aber erscheint er vielen als der erste Schritt in den Bürgerkrieg.

Aus Angst vor Anschlägen halten die Behörden die Orte der Wahllokale geheim

Wie konnte das geschehen? Washington hat seit April 2003 Siege über Siege erklärt, politische wie militärische. Als im Juli 2003 die beiden Söhne Saddam Husseins getötet wurden, sagte der kommandierende US-Befehlshaber General Ricardo Sanchez: »Das ist ein großer Tag für das irakische Volk, ein Tag mit bedeutenden Folgen.« Als im Dezember Saddam Hussein selbst gefangen genommen wurde, sagt der US-Zivilverwalter Paul Bremer: »Das ist ein großer Tag in der Geschichte des irakischen Volkes. Seine Zukunft war niemals hoffnungsvoller.« Danach rückte Musab al-Sarqawi in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Als Falludscha gestürmt wurde, hieß es aus dem US-Kommando: »Das wird dem Aufstand das Rückgrat brechen!« Und auf der politischen Ebene gab es ebenfalls nur Erfolgsmeldungen. Als die USA dem Irak am 28. Juni seine Souveränität zurückgaben – geplant war der 30., aber aus Sicherheitsgründen hatte man diesen Akt zwei Tage vorverlegt – sagte Bush: »Wir sind nicht nur im Zeitplan, sondern wir sind sogar schneller als geplant!«

Die Iraker erlebten das ganz anders. Ihr Land versank nach und nach im Chaos. Die guten Nachrichten, die es auch geben mochte in dieser Zeit, verpufften. Den USA gelang es nicht, die Herzen und Köpfe zu gewinnen – im Gegenteil, sie haben sie mehr und mehr verloren. Als sie Falludscha eroberten, mussten sie feststellen, dass die Aufständischen überwiegend nicht Ausländer waren, wie sie behauptet hatten – sondern Einheimische.

Nun, das muss nicht bedeuten, dass der Irak für die Demokratie verloren ist, dass er für immer und ewig zu Tyrannei oder Bürgerkrieg verdammt ist. Denn es besteht kein Zweifel daran, dass die allergrößte Mehrheit der Iraker wählen möchte. 88 Prozent sollen es nach jüngsten Umfragen sein. Vor allem die Schiiten drängen an die Wahlurnen, denn für sie ist es die Chance, zum ersten Mal seit Gründung des Iraks einen angemessenen Anteil an der Macht zu bekommen. Alle Iraker wollen frei sein und ihr Schicksal selbst bestimmen. Das zu sagen ist freilich eine Banalität, die man angesichts der Tragödie des Iraks als grausam-zynisch bezeichnen muss. Doch George W. Bush lässt sich nicht irritieren. Er verkündet vorsorglich schon wieder einen Sieg: »Die Terroristen wissen, dass im Irak ein entscheidender Augenblick naht. Wenn die Wahlen stattfinden, wird die Demokratie dauerhafte Wurzeln schlagen, und die Terroristen werden eine schreckliche Niederlage erleiden!«

Um die Skepsis der Iraker nachvollziehen zu können, ist es nützlich, das Diktum des US-Präsidenten etwas zu erweitern. Es ist für Iraker entscheidend, »unter welchen Bedingungen« die Wahlen stattfinden. Derzeit gehen täglich fünf Autobomben allein in Bagdad und Umgebung hoch, im Schnitt sterben dabei mehr als 30 Iraker. Die meisten der 7.000 Kandidaten treten nicht in der Öffentlichkeit auf, weil sie um ihr Leben fürchten müssen. Auch ist die Mehrheit der 5.000 Wahllokale unbekannt, in Falludscha wollen die Behörden die Orte gar bis zum letzten Moment geheim halten, um Attentätern keine Ziele zu bieten. Es gibt viele Kandidaten, die zwar im Fernsehen auftreten, aber nur unter der Bedingung, dass ihr Name nicht preisgegeben wird. Premier Ijad Allawi hat zudem aus Sicherheitsgründen den Ausnahmezustand verhängt. Das trägt kaum zur Glaubwürdigkeit des Urnenganges bei, und manche Iraker sprechen schon von den »geheimen Wahlen«.

Die Fehler der Amerikaner werden als absichtsvolle Taten wahrgenommen

Zu den Bedingungen gehört aber noch etwas anderes, Wichtigeres. Das Wahlrecht sieht Einerwahlkreise mit Mehrheitswahlrecht vor. Wer in einem Wahlkreis gewinnt, der bekommt alle Stimmen. Das bedeutet, dass Minderheiten und Regionen wenig Chancen haben werden, angemessen repräsentiert zu werden. Gestärkt werden Großgruppen wie etwa die Schiiten, über die Großajatollah Ali al-Sistani eine nahezu unbeschränkte Autorität ausübt, oder die gut organisierten Kurden. Das Wahlrecht ist nicht der Hauptgrund dafür, dass viele führende Sunniten ihre Anhänger zum Wahlboykott aufgerufen haben. Sie tun das, weil sie in ihren Gebieten aufgrund der Sicherheitslage eine sehr geringe Wahlbeteiligung erwarten – und daher in der Nationalversammlung kaum repräsentiert wären. Selbst gemäßigte und proamerikanische sunnitische Politiker wie Adnan Patschatschi begründen ihr Plädoyer für die Verschiebung der Wahlen mit dem Wahlrecht.

Es ist unter anderem dieses Wahlrecht, das bei vielen Irakern den Verdacht nährt, es gehe den USA gar nicht um die Demokratisierung des Iraks, sondern um seine Zerstückelung, oder jedenfalls um dauerhafte Lähmung dieses großen Staates durch interne Konflikte. »Die Fehler der USA werden inzwischen weithin als Absicht betrachtet; ihre Aussagen als scheinheilig; die ihnen unterstellte, heimliche Agenda, nämlich die Beherrschung des Iraks, als Ursache für den bewaffneten Widerstand«, heißt es in der Zusammenfassung einer breit angelegten Studie der renommierten International Crisis Group. Wie weit dieser Glaube inzwischen verbreitet ist, zeigt eine Umfrage des International Republic Institute vom September 2004. Demnach glauben rund 67 Prozent der Iraker, dass die USA »jene Macht sind, die am wahrscheinlichsten einen Bürgerkrieg auslösen will«.

Das nun mag auf den selbst ernannten Befreier befremdlich wirken. Doch man erinnere sich an die ersten Tage nach dem Sturz Saddam Husseins. Damals hatten Plünderer unter den Augen der US-Armee tagelang freie Hand. In Bagdad bemerkte man bitter, dass es von allen öffentlichen Gebäuden nur eines gab, in dem nicht einmal eine Fensterscheibe zu Bruch gegangen war: das Ölministerium. Zufall kann das nicht sein, dachten manche damals. Sollte die stärkste Macht der Welt wirklich außerstande sein, die abgerissenen Plünderer aus den Bagdader Vorstädten zu stoppen?

So wuchsen die Fragen. Was als Verdacht einiger weniger begann, wurde langsam zur Gewissheit vieler. Nahrung haben Verschwörungstheoretiker genügend bekommen. Als im Juni 2003 von der US-Zivilverwaltung die Übergangsverwaltung gebildet wurde, teilte man die Sitze den Schiiten, den Sunniten, den Kurden und den Turkmenen zu. Wo, fragten viele, sind die Araber? Warum wurden nur sie nach religiösen Kriterien aufgeteilt? Es gibt da beispielsweise auch schiitische Kurden. Und so nährten sich die Zweifel. Wie war das mit Falludscha? Waren die irakischen Soldaten, die der US-Armee bei der Eroberung beistanden, in ihrer großen Mehrheit nicht Schiiten und Kurden? Und in Mossul? Bei der Niederschlagung des Aufstandes in dieser multinationalen Stadt taten sich vor allem die kurdischen Peschmerga hervor, in der Uniform der neuen irakischen Armee.

Während Washington also Siege vermeldet und mitunter hinter vorgehaltener Hand Fehler eingesteht, erkennen viele Iraker in alledem den Willen zur systematischen Zerschlagung ihres Staates – und die Wahlen als ein Instrument zu diesem Zwecke. Freilich, man muss nicht dieser Interpretation folgen. Die Aufständischen jedenfalls stellen die Verhältnisse auf den Kopf. Opposition gegen die Wahlen erscheint als patriotischer Akt, Wählen als Verrat an der muslimischen Nation Irak.

Gleichwohl werden viele Iraker an die Urnen gehen, so gut sie es eben können, misstrauisch, bangend, um das eigene Leben fürchtend. Der US-Präsident wird eine propagandistische Salve abfeuern, und die Iraker werden skeptisch abwarten, ob sich für sie etwas ändert, ob weniger von ihnen ums Leben kommen, ob sie mehr als ein paar Stunden am Tag Strom haben werden, ob sie ihre Kinder gefahrlos in die Schule schicken können. Sie werden vor allem aber darauf achten, ob sie als Iraker oder aber als Sunniten, Schiiten, Kurden, Turkmenen behandelt werden. Nur das, das wissen sie, schützt vor Bürgerkrieg und Zerfall.

Wahlen im Irak: Fahrplan zur Freiheit

Zur Wahl der Nationalversammlung am 30. Januar bewerben sich 111 Parteien und Kandidaten. Die wichtigs- ten Listen sind: die schiitische »Vereinigte Irakische Koalition«, die Großajatollah al-Sistani nahe steht; die »Irakische Liste« von Premier Allawi, der ebenfalls Schiit ist; das sunnitische Wahlbündnis »Iraker« von Präsident al-Ghawar; die »Allianz Unabhängiger Demokraten« des proamerikanischen Sunniten und Ex-Außenministers Adnan Patschatschi; und die »Kurdistan-Allianz« der einst zerstrittenen kurdischen Parteien KDP, PUK und ihrer Verbündeten.

(c) DIE ZEIT 27.01.2005 Nr.5
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Aus Angst vor Anschlägen halten die Behörden die Orte der Wahllokale geheim.

Stellt sich da nicht die Frage ? Wo und wen kann man wählen, wenn die Wahllokale nicht mal bekannt sind. Es ist die schiere Angst der USA, die so etwas erst möglich macht. :rolleyes: