Hat sich Le Pen mit dieser Äußerung strafbar gemacht?
Das Interview, das Jean-Marie Le Pen der französischen Wochenzeitung „Rivarol“ gab, umfasst beinahe zwei Seiten. Der Vorsitzende der französischen Rechtspartei „Front National“ spricht sich darin entschieden und mit beachtlichen Argumenten gegen die geplante europäische Verfassung und eine Aufnahme der Türkei in die EU aus und spart nicht mit Kritik am französischen Staatspräsidenten Chirac. Obwohl es bei diesen Äußerungen um bedeutende Fragen der Gegenwart und Zukunft geht, scheint das nicht der Debatte wert zu sein.
Was hingegen die Gemüter einiger Mächtiger erhitzt und eine regelrechte Kampagne gegen Le Pen auslöste, war eine Äußerung auf die letzte Frage: Was halten Sie von den Gedenkfeiern zum 60. Jahrestag des Kriegsendes und der Propaganda, die damit im Jahr 2005 verbunden sein wird?
Le Pen antworte in diesem Zusammenhang, in Frankreich sei die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg nicht besonders unmenschlich gewesen, auch wenn es Fehler gegeben habe. Der französische Justizminister Dominique Perben hat die Staatsanwaltschaft daraufhin ersucht, gegen Le Pen ein Verfahren einzuleiten.
Nun kann man sehr viele alte Franzosen der Erlebnisgeneration fragen und wird meist hören, dass das Verhältnis zwischen Franzosen und deutschen Soldaten tatsächlich oft sehr herzlich war. Sollen diese Einschätzungen alle strafbar sein?
„In der Tat hat sich die deutsche Wehrmacht in Frankreich, Belgien und Holland in vieler Hinsicht besser benommen als wir.“ Mit dieser Äußerung in ihrem 1949 nach einer mehrmonatigen Reise durch Deutschland veröffentlichten Buch „The High Cost of Vengeance“ (zu deutsch „Kostspielige Rache“) hätte sich nach Meinung des französischen Justizministers wohl auch die berühmte Journalistin, Weltreisende und Autorin Freda Utley (1898–1978) strafbar gemacht?
Ein weiterer Krimineller wäre demnach Sir Basil Liddell Hart (1895–1970) gewesen, der bedeutende britische Militärschriftsteller. Er schrieb in seinen 1966 auf deutsch erschienenen „Lebenserinnerungen“: „Reiste man nach dem Krieg durch die befreiten Länder, so hörte man allenthalben das Lob der deutschen Soldaten und nur zu oft wenig freundliche Betrachtungen über das Verhalten der Befreiertruppen.“ Schon am 25. September 1951 hatte er in „The Times“ festgehalten: „Bei einem Besuch der Länder Westeuropas, bei einer Befragung bezüglich ihrer Erfahrungen unter der deutschen Okkupation wird einem immer wieder gesagt, dass das Naziregime hassenswert, aber die deutsche Armee äußerst korrekt in ihrem Verhalten war. Es ist in der Tat beunruhigend festzustellen, wie im allgemeinen nachteilig das persönliche Verhalten vieler Mitglieder der Befreiungsarmee mit dem der deutschen Soldaten verglichen wird.“
Und der britische Historiker Max Hastings meinte in seinem 1984 erschienenen Werk „Overlord: D-Day and the Battle for Normandy“, manche französische Familie habe feststellen müssen, dass sich alliierte Soldaten mehr aufs Kerbholz luden als den Deutschen vorzuwerfen gewesen sei.
Mögen diese Einschätzungen richtig oder falsch sein, zulässig müssen sie doch zumindest sein! Wenn Le Pens Äußerung schlussendlich wirklich von einem Gericht als strafbar betrachtet werden sollte, wäre dies die ultimative Bestätigung für die Richtigkeit seiner im selben Interview erhobenen Forderung: nämlich alle Gesetze abzuschaffen, die die Meinungsfreiheit abtöten.
[Links nur für registrierte Nutzer]