21. März 2009 Manchmal fragt sich Christian Eitel, warum er sich das antut. Wenn er abends in seinen Aktenordner schaut, in dem er seine Verletzungen dokumentiert hat. Wenn ihm während der Streife wieder Jugendliche mit großer Klappe begegnet sind. Die hinter ihm hergegangen sind, keinen Respekt vor der Uniform hatten, ihn „Scheiß Bulle“ und „Wichser“ genannt haben und ihm, als er sich umgedreht hat, ins Gesicht gegrinst haben. Den schlimmsten Teil Berlins nennt Eitel sein Revier. Dort ist er als Kontaktbereichsbeamter unterwegs, als „Kob“, zu Fuß auf den Straßen des Polizeiabschnitts 36 im Wedding. Als der Taxifahrer im Abschnitt 36 hält, sagt er zum Abschied: „Das hier ist Slum, fast so schlimm wie in New York. Das ist nicht Deutschland, aber auch nicht die Türkei. Das ist Niemandsland.“
Zum Einsatz nur noch mit zwei Streifenwagen
Der Abschnitt 36 umfasst 6,5 Quadratkilometer, von der Kühnemannstraße im Norden bis zur Gartenstraße und zur Bernauer Straße im Süden, von der S-Bahn-Trasse alter Güterbahnhof im Osten bis zur Reinickendorfer Straße im Westen. Etwa 80.000 Leute leben in den vier- oder fünfstöckigen Gründerzeithäusern mit ihren Hinterhöfen und in den Bauten aus den siebziger und achtziger Jahren. Hier und da kommt frische gelbe Farbe auf die Fassade, werden Graffiti überpinselt, Überwachungskameras in den Eingängen montiert. Die Treppenhäuser zeigen noch den Verfall der vergangenen Jahrzehnte. Die Polizei fährt hier 1800 Einsätze im Monat und vollstreckt 100 Haftbefehle. 19 Schulen gibt es, 15 Moscheen in Fabriketagen und Hinterhöfen, unzählige Dönerbuden, Gemüsehändler, An- und Verkäufer, Internetshops.
Straßen, in denen nichts Deutsches mehr sei, sagt Eitel. 57,7 Prozent der Einwohner haben einen Migrationshintergrund, 35,8 Prozent sind Ausländer. 107 strafrechtlich relevante Widerstandshandlungen gab es im vergangenen Jahr; jeden Monat werden durchschnittlich 1,5 Beamte verletzt. In manche Straßen traut sich die Polizei bei Einsätzen nur mit zwei Streifenwagen.
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Silvester 2007 hatten in der Gegend Jugendliche mit Signalpistolen auf Passanten geschossen. Die Polizei kam mit zwei Streifenwagen. Und aus einem nahe gelegenen Treff kamen immer mehr Jugendliche. „Die haben uns richtig aufgerieben.“ Hier habe er es schon mit dem gesamten Strafgesetzbuch zu tun gehabt, sagt Eitel. „Wenn du zuckst, dann hast du verloren.“ Man müsse gegenhalten, sich Respekt verschaffen. Letztens haben ihn wieder zwei angequatscht, ihn beleidigt. „Den einen habe ich an die Wand gedrückt. Die waren schnell ruhig.“Probleme im Abschnitt 36 bereiten vor allem Jugendliche. „Einige sind nicht integrationsfähig.“ Eitel spricht von heranwachsenden Männern, oft arabischer Herkunft, die die Regeln des Staates nicht annähmen. Sie machten ihre eigenen Regeln, lungerten in Gruppen herum. „Gerade im Sommer hast du in jeder Ecke zehn bis fünfzehn.“ Sie spuckten vor den Polizisten aus, um ihre Verachtung zu zeigen. Und beschimpften sie als Rassisten. „Jeden Tag muss ich mir anhören, ich sei ausländerfeindlich.“
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Ein Halbstarker läuft an Eitel vorbei, schaut den „Kob“ an. Die Blicke sagen: „Na, traust du dich, dich mit mir anzulegen?“
„Sie denken, die Gegend ist rechtsfrei. Aber noch hat die Polizei das Sagen.“ Auch wenn die Jugendlichen genau wissen, wie weit sie gehen können, ohne dass etwas passiert. Seit anderthalb Jahren ist Eitel „Kob“, vorher war er neun Jahre Zivilfahnder. Immer war da der Frust, manche immer wieder festzunehmen und sie nach sechzig Straftaten dennoch auf der Straße zu sehen. „Richter sagen meistens nur: ,Drei Tage Fernsehverbot.‘“
[...]Hauptkommissar Göbel ist von Berlin aufs Land gezogen. Sein Sohn hatte Probleme mit anderen Jugendlichen. „Die jeweiligen Volksgruppen taten sich zusammen, beanspruchten Bolzplätze für sich und steckten in Reinickendorf ihre Reviere ab.“ Er habe sich damals gesagt, jetzt oder nie, sagt der Polizist. „Hier müssen wir auch jeden Tag darauf achten, wo wir die Grenzen setzen.“ Seine Kollegin nickt. Sie wollte in diesen Abschnitt, weil sie Erlebnishunger hatte.
Klaus Eisenreich von der Gewerkschaft der Polizei in Berlin sagt, es sei normal für Polizisten geworden, geschlagen, getreten und bespuckt zu werden. „Bislang mussten Polizisten nur Warnschüsse abgeben, aber irgendwann wird es nicht mehr dabei bleiben.“ Auch Christian Eitel musste schon mehrfach zur Pistole greifen. „Wir haben hier eine Gettoisierung. So ist es, und ich lasse mir den Mund nicht verbieten.“
Dann zuckt Eitel mit den Schultern: „Die Ausländer sind hier das Problem. Es ist einfach so.“
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Problemkiez, verlorenes Gebiet, rechtsfreier Raum - das sind die Begriffe, die immer wieder für den Abschnitt 36 benutzt werden, spätestens seit Ende der neunziger Jahre zwei arabische Männer mit ihrem Wagen vor einer Kneipe an der Soldiner Straße gehalten hatten. Sie waren ausgestiegen und hatten mit ihren Maschinenpistolen 120 Schuss in den Laden gejagt, erinnert sich Eitel. „Es war ein Streit zwischen zwei arabischen Großfamilien.“ Verändert habe sich seitdem eigentlich nichts. „Außer, dass Rumänen hinzugekommen sind.“
2003 gab die Berliner Innenverwaltung eine Studie in Auftrag, die sich mit den Problemkiezen der Stadt auseinandersetzte. Dort heißt es, eine Ghettobildung wie in amerikanischen oder französischen Großstädten sei vorstellbar. „Festzustellen ist, dass eine Integration von Ausländern beziehungsweise eine Vermischung von Nationalitäten immer weniger zu erkennen ist. Konflikte innerhalb der einzelnen Gruppen werden ohne Hinzuziehung der Polizei geregelt.“
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Nur eine Gruppe Jugendlicher ist in der Soldiner Straße unterwegs. Sie schreien „hey“, lachen, als die Schrittfrequenz des Fremden schneller wird. Eine Ecke weiter spuckt ein Jugendlicher seine Rotze vor seine Füße. Eitel hat gesagt: „In die Augen schauen.“ Wer auf den Boden starrt, zeigt seine Angst
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Gewalt ist keineswegs ein Berliner Problem. In jeder größeren Stadt gibt es mittlerweile Problemviertel. Doch vielerorts verschweigt man die Situation, sei es aufgrund von Political Correctness, die lieber von Integrationserfolgen sprechen lässt, sei es, weil man sich seine Ohnmacht nicht eingestehen möchte.
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Früher in den siebziger Jahren war es vorbei, wenn einer am Boden lag. Seit Ende der achtziger Jahre wird nachgetreten.“ Viele im Viertel hätten ihr eigenes Strafgesetzbuch. „Dumm geboren, nichts dazugelernt, eine große Schnauze und meist osmanischer Herkunft.“ Und sie fühlten sich nur in der Gruppe stark. „Ist einer von denen alleine, kann er unter einen Teppich kriechen, ohne eine Beule zu machen.“
Zwei Kollegen hat Eitel verloren. Vor drei Jahren erschoss ein Drogenhändler einen Freund. Während der Trauerfeier hörten drei südländische Jugendliche die Musik auf dem Friedhof. Sie bauten sich vor den trauernden Polizisten auf, verschränkten die Arme und grinsten. Eitel sagt, in solchen Momenten falle es ihm schwer, nicht auszurasten.