Aus der Feder von Hans Meiser erschien in diesem Jahr eine mehr als verdienstvolle Studie: Gescheiterte Friedensinitiativen 1939-1945 in der fast 70 Friedensfühler und Friedensangebote von deutscher Seite vom 31. August (!) 1939 bis zum Jahre 1943 dargestellt und analysiert werden. Siebzig! Und doch beanspruchte Meiser keineswegs Vollständigkeit für seine Zusammenstellung. Das ist auch nicht möglich, solange nicht alle Akten der Siegermächte freigegeben worden sind.
Jedes Jahr werden: zum Beispiel im britischen Staatsarchiv, dem National Archive, früher Public Record Office (PRO), ganze Aktenbestände, einzelne Ordner und manchmal auch nur ein einziges Blatt innerhalb einer Akte freigegeben. So genau hatte man den Aktenbestand auf das eigene Land belastendes Material überprüft, daß nicht nur geschlossene Akten, sondern auch einzelne Blätter oder mehrere Seiten durch sogenannte ‘Leichen’ - leere Seiten - ersetzt wurden. Darauf ist dann beispielsweise vermerkt: „Closed until 2019“. Und daher erschließt sich bisweilen erst nach Jahren der Zusammenhang eines historischen Vorgangs aus einer Akte. Als Historiker der sogenannten ‘kritischen Generation’ muß man sich bei dieser Praxis unwillkürlich fragen, warum ein ‘urdemokratisch’ verfaßtes Gemeinwesen wie die britische Monarchie, dessen Wesensprinzipien auf der Freiheit des Wortes, auf Transparenz und Aufklärung beruhen sollen, diese Form der Geheimniskrämerei, der ‘Staatsräson’, nötig hat. Diese Frage wird um so unverständlicher, hält man sich vor Augen, welche einmalige, welche historische Chance für die ‘demokratische Welt’ damit hätte verbunden sein können, absolute Glaubwürdigkeit zu gewinnen, wenn sie, ja: wenn sie sofort die Freigabe der eigenen Akten nach Kriegsende für die internationale - und damit auch für die deutsche Forschung - verfügt hätte. Die Sieger hatten so gut wie alle Aktenbestände des Dritten Reichs erbeutet, sich deren Deutungshoheit angemaßt und hätten nun Gelegenheit gehabt, durch Einblick in die eigenen Akten zweifelsfrei nachzuweisen, daß die Absichten und Handlungen der Alliierten lauterer waren, vor allem aber, daß sie den Zielen entsprachen, für die man lautstark propagandistisch eingetreten war: Menschenrechte für alle, Freiheit für jedermann, einen gerechten Frieden, Toleranz und Wohlstand. Vor allem aber hätte man allen Zweifeln, Gerüchten und Spekulationen direkt das Wort abschneiden können. Man tat es aber nicht. Jeder auch nur halbwegs objektive Historiker hätte nun die Frage nach dem ‘Warum’, nach dem ‘Cui bono’ stellen müssen. Und die allmählich erfolgende Freigabe der hochbrisanten Akten des englischen Außenministeriums zeigt, welcher politische Sprengstoff darin liegt, vor allem aber in den bis 2017, 2019 und noch länger gesperrten Akten, darunter auch der eigentlichen Heß-Akte, noch liegen muß.
Genug Zündstoff ist aber bereits in dem kürzlich unter der Signatur PRO (Public Record Office) FO (Foreign Office) 371/24408 freigegebenen Memorandum enthalten, das 1941 als ‘geheim’ klassifiziert in Kleinstauflage für einen internen Entscheidungszirkel gedruckt wurde. Es enthält eine „Zusammenfassung der wichtigsten Friedensfühler von September 1939 bis März 1941“. Sechzehn bedeutende Friedensanläufe werden darin geschildert, von den handelnden Personen über Motive und Verlauf bis hin zu den inhaltlichen Angeboten. Die Prominenz der Friedensfühler ist ebenso beeindruckend wie ihre Internationalität und Reputation: von Göring über den Prinzen von Hohenlohe und Goebbels bis zu von Papen, von schwedischen Industriellen wie Birger Dahlerus oder Baron Bonde bis hin zum schwedischen und spanischen König, ja sogar dem Papst, von britischen, holländischen und amerikanischen Ölmagnaten und Geschäftsleuten, vom finnischen Ministerpräsidenten und nicht zuletzt von Adolf Hitler selbst, der seinen Rechtsberater Dr. Ludwig Weissauer mit Vollmachten entsandt hatte. Und dies waren nur die „Hauptfriedensfühler“. Eine weitere Akte enthüllt, daß, zählen die Briten auch die untergeordneten Bemühungen mit, der Flug von Rudolf Heß am 10. Mai 1941 als der 42. Versuch gerechnet werden muß. Meiser zählte fast 70 solcher Versuche bis zum Jahr 1943, von denen sich viele mit der englischen Zählung nicht überschneiden, so daß die Zahl der deutschen Bemühungen, den europäischen und später den Weltfrieden wiederherzustellen, weit höher liegen muß.
Wichtig, vom politischen wie auch vom moralischen Standpunkt, ist dabei, daß all diese Versuche zu einem Zeitpunkt unternommen wurden, als Deutschland auf dem Höhepunkt seiner militärischen Machtentfaltung stand, also nicht um Frieden betteln mußte. Selbstverständlich war der Reichsregierung spätestens vom dritten Tag des Krieges an bewußt, in welcher Gefahr sich Deutschland bei einem lang andauernden Abnutzungskrieg befand. Auch wußte man schon Mitte 1940, daß die UdSSR kein langfristiger Verbündeter sein konnte, daß ihr rasch wachsendes Kriegspotential und ihre aggressive Ideologie im Gegenteil eine ernst Bedrohung, nicht nur für das Deutsche Reich, darstellten. Wesentlich war aber, daß man gegenüber dem Westen, ab dem Juni 1940 nur noch gegenüber Großbritannien, keine eigentlichen Kriegsziele hatte, daß man trotz der Gebietsverluste nach dem Ersten Weltkrieg ‘saturiert’ war. Hitler hat in seinen Angeboten mehrmals betont, daß er aus „Verantwortung für die weiße Rasse“ keinen Krieg bis zum äußersten wünsche, also aus Verantwortung für Europa und dessen Rolle in der Weltpolitik. Die Vorschläge zeigen auch, daß Hitler seine Friedensofferten nicht etwa unternahm, um die Sowjetunion ‘überfallen’ zu können, aus einem sich täglich verschärfenden Zeitnotstand heraus also (was für den Zeitpunkt des Heß-Fluges als alleiniges Motiv unterstellt wird), denn die gleichen oder zumindest fast identischen Vorschläge, wie sie Heß im Mai 1941 unterbreiten sollte, wurden schon im Juli und September 1940 vorgebracht. Zu diesem Zeitpunkt ging der Reichskanzler noch von einem Friedensvertrag mit einer Dauer von 50 Jahre für ganz Europa aus und von einem ‘containment’, einer Eindämmung der Sowjetunion durch eine bewaffnete und gemeinsame Interessen verkörpernde Europa-Idee der vier Großmächte Deutsches Reich, Großbritannien, Frankreich und Italien.
Im folgenden soll daher der Text dieses Memorandums übersetzt abgedruckt werden, damit sich der Leser ein Bild von der Art und Weise machen kann, mit der der innere Zirkel der britischen Politik auf Anweisung Churchills, Vansittarts und Edens alle Möglichkeiten einer friedlichen Übereinkunft abwies. Dabei sollten zwei Zitate Churchills stets im Gedächtnis behalten werden. Im Januar 1941 gab er Eden schriftlich folgende Direktive: „Unsere Haltung zu all diesen Anfragen und Vorschlägen ist absolutes Schweigen.“ (PRO, FO C109 002203) Einen Monat später ließ Churchill den engsten Kreis seines Kriegskabinetts durch Rex Leeper, den Chef der Abteilung ‘Spezialoperationen 1’ (SO1) des Geheimdienstes, auch wissen, warum: „... wir (können) wahrscheinlich den Krieg in Europa nicht mehr gewinnen, wohl aber einen Weltkrieg.“ (PRO, FO 898/306).
(Beide Zitate aus Martin Allen, Churchills Friedensfalle. Das Geheimnis des Heß-Fluges 1941, Druffel Verlag, 2002)