...vor kurzem mal wieder den schmalen Band über die "Dialektik der Säkularisierung" (Habermas "vs" Ratzinger) gelesen. Dann vermehrt über Habermas nachgedacht und über seine ursprüngliche Rede über die "Dialektik der Säkularisierung":
Kurze Zusammenfassung von Habermas' ursprünglichem Referat bis zu diesem Punkt:Die Säkularisierungsthese ist, obwohl sie von den Entwicklungen in den europäischen Wohlstandsgesellschaften bestätigt zu werden scheint, in der soziologischen Fachöffentlichkeit seit mehr als zwei Jahrzehnten umstritten.4 Im Fahrwasser der nicht ganz unbegründeten Kritik an einem eurozentrisch verengten Blickwinkel ist nun sogar vom „Ende der Säkularisierungstheorie“ die Rede.5 Die USA, die ja mit unverändert vitalen Glaubensgemeinschaften und gleichbleibenden Anteilen von religiös gebundenen und aktiven Bürgern gleichwohl die Speerspitze der Modernisierung bilden, galten für lange Zeit als die große Ausnahme vom Säkularisierungstrend. Belehrt durch den global erweiterten Blick auf andere Kulturen und Weltreligionen, erscheinen sie heute eher als der Normalfall. Aus dieser revisionistischen Sicht stellt sich die europäische Entwicklung, die mit ihrem okzidentalen Rationalismus für den Rest der Welt das Modell sein sollte, als der eigentliche Sonderweg dar.6
Bischof begrüßt Teile der Sharia für UK, Sarko schickt tausende Polizisten in Ghettos, die man auch als muslimisch umreißen könnte, Brand in Ludwigshafen, Erdogan in Köln et cetera: "Sie dokumentieren, wie sehr der Zusammenhalt innerhalb vermeintlich säkularer Gesellschaften gefährdet ist – und wie drängend sich die Frage stellt, ob und in welchem Sinne wir es inzwischen mit einer postsäkularen Gesellschaft zu tun haben."
"Um von einer „postsäkularen“ Gesellschaft sprechen zu können, muss diese sich zuvor in einem „säkularen“ Zustand befunden haben."
Von Postsäkularismus könne man bezogen auf das "Alte Europa" nicht sprechen, aber: "Dennoch wecken globale Veränderungen und die weithin sichtbaren Konflikte, die sich heute an religiösen Fragen entzünden, Zweifel am angeblichen Relevanzverlust der Religion. Die lange Zeit unbestrittene These, dass zwischen der Modernisierung der Gesellschaft und der Säkularisierung der Bevölkerung ein enger Zusammenhang besteht, findet unter Soziologen immer weniger Anhänger.3 Diese These stützte sich auf drei zunächst einleuchtende Überlegungen."
Wissenschaftliche Lösungs- und Erklärungsvorschläge unterminieren Nachfrage nach religiösen Lösungsvorschlägen, Trennung von Politik und Religion unterminiert Relevanz von religiösen Institutionen, höherer Lebensstandard verringert Bedürfnis nach metaphysischem Trost.
Aber: siehe obiges Zitat.
Der Text geht selbstverständlich noch weiter und ist überaus lesenswert:
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Die Frage sollte zunächst aber lauten: Ist das alte und gottlose Westeuropa ein Vorbild, an dessen Wesen die restliche Welt genesen wird und genesen sollte, oder ist es ein Einzelfall, eine Verirrung, die im Treibsand der Geschichte verschwinden wird? Damit drängt sich natürlich eine zweite Frage auf, nämlich diejenige, ob man in Bezug auf das alte Europa überhaupt von säkularen Gesellschaften sprechen kann, oder ob Ideologien konstruiert worden sind, die auch auf breiter Front als Ersatzreligionen schon dienen. (Delphine, Öko, New-Age usw.)
Edit: Der Titel des Threads "Vorbild oder Einzelfall" ist natürlich nicht ganz treffend, weil man natürlich beides zugleich seien könnte. Allerdings sollte hoffentlich klar geworden sein, dass es sich vielmehr um die Frage dreht, ob "es" sich um einen Zielpunkt oder eine Verirrung der Geschichte handelt.