93 Jahre danach - Die armenische Minderheit in der Türkei

Am 24. April 1915 begann in der Türkei die systematische Vertreibung der Armenier. Hunderttausende von ihnen kamen dabei ums Leben. Trotzdem lebt eine kleine Gruppe von Armeniern noch heute in der Türkei.

Die allermeisten der 80.000 im Land verbliebenen Armenier leben heute in Istanbul. Dass es sie überhaupt noch gibt, überrascht Außenstehende manchmal, sagt der Sportlehrer Armando Kozantino: "Die Leute wissen oft nicht, dass wir hier als Armenier leben können. Wir haben hier armenische Kirchen, armenische Schulen, das Recht auf armenische soziale Einrichtungen, wir haben auch einige Rechte und Freiheiten." Die Armenier haben in der Türkei einen völkerrechtlichen Anspruch auf ihre Kultur. Er erwächst ihnen aus dem Friedensvertrag von Lausanne, den die Siegermächte des Ersten Weltkrieges 1923 mit der jungen Türkei abschlossen. Auch das Grundrecht auf Gleichberechtigung garantierte die Türkei ihren nicht-moslemischen Bürgern. In der Praxis hapert es damit aber noch heute:

Den Armeniern bleiben nur freie Berufe

Der Weg in die türkische Armee bleibt den Armeniern verbaut.
In Pangalti, dem Armenierviertel von Istanbul, gibt es zahlreiche Zahnärzte, Autowerkstätten und Goldschmiede. "Die Armenier können in der Türkei traditionell nicht Beamte, Soldaten oder Polizisten werden", erläutert der armenische Mediziner Pakrat Estukyan, der in Pangalti ein kleines Labor betreibt. Damit blieben den Armeniern nur die freien Berufe. "In der türkischen Verfassung heißt es, dass alle Bürger gleich sind vor dem Gesetz", klagt Estukyan. "Aber es gibt auch ungeschriebene Gesetze. Ein armenisches Kind wird etwa an eine Militärakademie einfach nicht aufgenommen. Die werfen einen Blick in die Personalakte und sagen: abgelehnt." Das sei weder gesetzlich noch verfassungsmäßig verankert, werde aber so gehalten, und zwar systematisch.

Aus Sicht des Menschenrechtsvereins ist dies das grundlegendste Problem der Armenier wie auch der anderen Minderheiten in der Türkei. "Was die Nicht-Moslems in der Türkei am dringendsten brauchen, das ist die Anerkennung als gleichberechtigte Staatsbürger des Landes", sagt Raffi Hermon. "Solange wir nicht-moslemischen Staatsbürger nicht Gouverneur werden können oder Landrat, Diplomat, Polizist, Soldat oder Müllmann oder sonst ein verbeamteter Beruf, Lehrer für Türkisch oder Erdkunde oder Sozialkunde – solange haben wir hier noch immer ein Problem."

Susanne Güsten
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