"Hitler agierte als klassischer Stimmungspolitiker. Er fragte sich fast stündlich, wie er die Zufriedenheit der deutschen Mehrheitsbevölkerung sicherstellen könnte. Auf der Basis von Geben und Nehmen errichtete er einen Umverteilungsstaat par excellence. Das Ehegattensplitting, das die Konservativen während der Kabinettsbildung im Jahr 2002 so mannhaft verteidigten, stammt von 1934. Die Kilometerpauschale, die der bayerischen Landesregierung am Herzen liegt, findet sich in demselben Steuerreform-Gesetz mit der Begründung: 'Es ist der Grundsatz des Nationalsozialismus, die Bevölkerung im eigenen Heim und in der freien Natur anzusiedeln...' Seit 1941 sind die deutschen Rentner automatisch krankenversichert und nicht länger auf die öffentliche und kirchliche Fürsorge verwiesen. Unter Hitler verdoppelte sich die Zahl der Urlaubstage.
Die Zuschläge für Sonn-, Feiertags- und Nachtarbeit waren in Deutschland bis zum 2. Oktober 1940 steuerpflichtig. Doch dann schaffte die NS-Regierung diese Steuern mit einem Federstrich ab. Selbst der Reichsfinanzminister hatte zugestimmt, 'vorausgesetzt natürlich, daß der Krieg im Jahre 1940 zu Ende geht'. Nicht zu Unrecht freute er sich auf den 'starken Eindruck', den eine solche soziale Wohltat auf die deutsche Öffentlichkeit mitten in einem 'gigantischen Krieg' machen werde.
Wer den destruktiven Erfolg des Nationalsozialismus verstehen will, der sollte sich die Schauseite der Vernichtungspolitik ansehen – den modernen, sozialpolitisch warmgehaltenen Gefälligkeitsstaat. Die deutschen Soldatenfrauen erhielten im Zweiten Weltkrieg das Doppelte an Familienunterhalt wie ihre britischen und US-amerikanischen Kolleginnen. Sie verfügten über mehr Geld als im Frieden; sie wichen der Arbeit aus, weil das Lohnabstandsgebot nicht gewahrt worden war. Deshalb kam 1942 der Vorschlag auf, die staatlichen Transferleistungen einzuschränken und zu besteuern. Das scheiterte an Hitler, der Stimmungseinbrüche befürchtete. 'Wir haben im Krieg zu opulent gewirtschaftet', bemerkte Reichswirtschaftsminister Funk dazu trocken, 'aus dieser Entwicklung ist schwer herauszukommen.'
Achtzig Prozent der Deutschen zahlten bis zum 8. Mai 1945 keinerlei direkte Kriegssteuern. Die indirekten hielten sich in Grenzen. Sie erstreckten sich auf Tabak, Branntwein und Bier. Die volksverbundene Vorsicht des Regimes zeigt sich dabei in jedem Detail. 'Im südostdeutschen Verbrauchergebiet' machte die Steuer für einen Liter Vollbier ('positives Stimmungselement', Goebbels) zehn Reichspfennige aus, im Norden knapp dreißig mehr. Auf die Weinsteuer wurde verzichtet, weil sie 'mittelbar auch den Winzerstand treffen würde, dessen wirtschaftliche Lage im allgemeinen nicht günstig ist'.
Vom Kündigungs- über den Mieter- bis hin zum Pfändungsschutz bezweckten Hunderte fein austarierte Gesetze das sozialpolitische Appeasement. Hitler regierte nach dem Prinzip: 'Ich bin das Volk', und er zeichnete damit die Konturen des späteren Sozialstaats Bundesrepublik vor. Die Regierung Schröder/Fischer steht vor der historischen Aufgabe des langen Abschieds von der Volksgemeinschaft."
(Aus: Götz Aly, "Ich bin das Volk", in: Süddeutsche Zeitung vom 1. September 2004)