"Der Aufstand hatte zu wenig Zeit"
Autor Hubertus Knabe in Braunschweig: Schon am 17. Juni 1953 stand die DDR vor dem Aus
BRAUNSCHWEIG. Hubertus Knabe, wissenschaftlicher Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen, hat am Mittwochabend im Braunschweigischen Landesmuseum seine Forschungen zum Aufstand in der DDR am 17. Juni 1953 vorgestellt. Henning Noske sprach mit ihm.
Was ist der neue Forschungsstand zum 17. Juni 1953?
Die Archive der DDR sind erst seit einigen Jahren offen. Es brauchte seine Zeit, diese Unmengen an Akten auszuwerten. Das ist jetzt erfolgt – und wahrscheinlich gibt es keinen anderen Aufstand in der Geschichte, der so gut dokumentiert ist wie dieser, weil Polizei, Staatssicherheitsdienst, Politbüro, Zentralkomitee unglaublich große Aktenmengen hinterlassen haben. Neu ist, dass der Aufstand nicht nur am 17. Juni stattfand, sondern erheblich früher begann und erheblich länger dauerte. Neu ist, dass nicht nur Arbeiter protestierten, sondern große Teile der Bevölkerung – auch Bauern, Hausfrauen, Selbständige, Studenten.
Ist der 17. Juni im Westen pathetisch überhöht oder unterschätzt worden?
Unterschätzt worden ist der 17. Juni sicherlich in beiden deutschen Staaten.
Erst jetzt weiß man, dass sich über eine Million Menschen daran beteiligten. Es haben viel mehr Menschen gestreikt als früher angenommen: eine halbe Million. ( Unterstreichung von mir) Im Westen war vor allem der Umgang mit dem Datum zunehmend unglaubwürdig. Man hat mit der SED verhandelt, man hat mit der DDR Geschäfte gemacht – und einmal im Jahr hat man den Aufstand gegen eben diese DDR-Führung gefeiert. Das erschien vielen Menschen unglaubwürdig, wenn nicht sogar heuchlerisch.
Und was ist mit dem Vorwurf, der 17. Juni sei als "Tag X" vom Westen ferngesteuert worden?
Das ist eine der Propagandalügen, die die SED nach der Niederschlagung des Aufstandes in Umlauf brachte. Schon als die Bauarbeiter am 16. Juni in Berlin demonstrierten, erklärte das Politbüro, das seien von faschistischen Provokateuren aus Westberlin aufgehetzte Arbeiter gewesen. Diese Behauptung ist durch nichts belegt.
Gibt es eine direkte Linie vom 17. Juni 1953 zum 9. November 1989?
Die DDR wäre von der Landkarte verschwunden, wenn die Russen 1953 nicht eingegriffen hätten. Dann hätte es freie Wahlen gegeben – und eine schnelle Wiedervereinigung. Das ist erst 36 Jahre später eingetreten und zwar deshalb, weil die russischen Truppen diesmal in den Kasernen blieben. Manche sagen, die Forderungen der Aufständischen hätten sich erst Jahrzehnte später erfüllt. In der Tat konnte die Forderung nach freien und geheimen Wahlen erst im März 1990 verwirklicht werden. Ein Unterschied besteht indes darin, dass die Arbeiter 1989 als organisierte Kraft nicht mehr in Erscheinung traten. Es war dem Einfluss der Kirchen und kirchlich Engagierter zu verdanken, dass die zweite Revolution, der zweite Aufstand gegen die SED, diesmal gewaltfrei ablief.
Wie massiv hat die Sowjetunion 1953 in der DDR eingegriffen?
Es war der größte Militäreinsatz in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Es waren fast 500 000 sowjetische Soldaten damals in der DDR stationiert, ein großer Teil davon – 13 Divisionen – kam zum Einsatz. Allein in Berlin 600 Panzer und 20 000 sowjetische Soldaten. Allein durch die physische Macht dieser rollenden Panzer wurden die Straßen frei geräumt. Ich bin überrascht, wenn man manches liest, was vor 1989 über den Aufstand geschrieben wurde. Da ist häufig von einer "großen Zurückhaltung" die Rede. Ich kann das nicht nachvollziehen. Die sowjetische Besatzungsmacht hat am 18. Juni demonstrativ in allen Zentren des Aufstandes willkürlich ausgewählte Demonstranten und Aufständische standrechtlich erschießen lassen.
Wieviele Verhaftungen gab es?
Es wurden ab dem Abend des 17. Juni mindestens 13 000 Menschen festgenommen, von den Straßen weggefangen, aber auch in den Betrieben die Streikführer oder Sprecher der Arbeiter. Mindestens 1600 von ihnen sind verurteilt worden, zwei zum Tode, drei lebenslang, 13 zu bis zu 15 Jahren Zuchthaus. Das ist die strafrechtliche Rache gewesen, die die SED genommen hat.
Hatte der Aufstand keine Anführer?
Er hatte zu wenig Zeit, um diese Führer wirklich herauszubilden. Es hatten sich am 17. Juni in den Betrieben sehr wohl Führer gefunden, die Forderungskataloge formulierten. Diese sind übrigens viel konkreter als die Aufrufe des Herbstes 1989. Es ist ein klares Programm zum Sturz der Diktatur. Doch es war zu wenig Zeit, dass sich die Führer profilieren oder auch nur verständlich machen konnten. Meist hatten sie nicht mal Lautsprecher. Das Manko dieses Aufstandes war, dass im Gegensatz zum Ungarn-Aufstand drei Jahre später die Intellektuellen abseits standen. In Ungarn haben sich die Schriftsteller an die Spitze gestellt, in Deutschland waren Bertolt Brecht, Stephan Hermlin, Stefan Heym, Erich Loest, Anna Seghers unisono der Meinung, dass es sich hier um einen faschistischen Mob gehandelt hätte.
Freitag, 30.05.2003
© Braunschweiger Zeitungsverlag 2003