Von unserem Korrespondenten DIETER CLAASSEN (Die Presse) 28.06.2006
Eine halbe Million Polen arbeiten in Großbritannien. Sie werden umworben.
Polnische Arbeiter sind für England unentbehrlich geworden:
Jeder fünfte Kleinbetrieb kann nicht mehr auf die neuen Arbeitskräfte verzichten. (AP)
London. "Der Unterschied ist der, dass meine englischen Arbeitskräfte gern fünf Minuten früher Schluss machen, die Polen dagegen noch zehn Minuten länger bleiben, um beim Aufräumen zu helfen". James Macnaghten beschäftigt 60 junge Leute, die Studenten und Touristen auf Stechkähnen über die Wasserwege von Cambridge und Oxford steuern.
Ganz England lobt die Polen: die Arbeitgeber, die Regierung und die Bank von England. Junge Polen bilden das größte Kontingent der Einwanderer aus den am 1. Mai 2004 der EU beigetretenen acht Ländern Mittel- und Osteuropas. Sie unterliegen auf der Insel keinerlei Beschränkungen bei der Aufnahme einer Arbeit - anders als in den meisten EU-Ländern, die sich Übergangszeiten für die Öffnung ihrer Arbeitsmärkte ausbedungen haben.
Nach amtlichen Zahlen stellen die Polen über die Hälfte der seit 2004 registrierten über 350.000 neuen Arbeitskräfte. "Wahrscheinlich ist ihre Zahl aber wesentlich größer", so ein Sprecher der polnischen Botschaft in London. Arbeitsmarktexperten veranschlagen ihre Zahl auf über eine halbe Million - inklusive Saisonarbeitern.
Die Polen sind wohl die am schnellsten wachsende ethnische Minderheit. Im West-Londoner Stadtteil Ealing, in dem bereits seit dem Krieg Polen wohnen, wird fast überall polnisch gesprochen. Die Filiale der Barclays Bank freut sich über eine rapide wachsende Zahl neuer Konteneröffnungen, seitdem sie einen Polen eingestellt hat. Die Besitzerin eines polnischen Feinkostladens schwärmt über Großbritannien als das "Land der unbegrenzten Möglichkeiten".
Unternehmer erwidern das Kompliment gern mit Anekdoten, Wirtschaftsforscher mit eindrucksvollen Zahlen über den Fleiß und den Beitrag, den die Menschen aus dem Osten zur Dynamik der Inselwirtschaft beisteuern. Auch Tony Blair nutzt jeden Anlass, den Nutzen der Zugewanderten herauszustreichen - allein schon um die Gegner der "Horden aus dem Osten" in Schach zu halten. Unter den Empfängern von Sozialhilfe seien die neuen Arbeitskräfte nicht zu finden, entgegnet das Sozialamt jenen, die in den neuen Mitbürgern eine Bürde für den Steuerzahler sehen.
Laut einer Studie des Wirtschaftsprüfers Ernst & Young tragen die osteuropäischen Immigranten 0,2 Prozentpunkte zum Wirtschaftswachstum bei und sorgen für 300 Mill. Pfund (207 Mill. Euro) an Steuereinnahmen.
2007 soll der Wachstumsbeitrag doppelt so hoch sein. Zudem trügen die bescheidenen Löhne dazu bei, den Lohn- und Inflationsdruck unter Kontrolle zu halten.
Doch Sebastian Creswell-Turner vom "Daily Telegraph", der eine Zeit lang seine Existenz mit polnischen Einwanderern in beengten Verhältnissen im Londoner Stadtteil Brixton teilte, sieht Kehrseiten des vermeintlichen Segens aus dem Osten. So trieben die Einwanderer mit ihrem Bedarf an Wohnraum die Mieten und Häuserpreise am unteren Ende des Marktes und damit auch für ärmere Engländer in die Höhe.
Und mit ihren extrem niedrigen Löhnen und Preisen drückten sie die Einkommen für Englands Handwerker. "Blair importiert damit nicht nur billige Arbeitskräfte, sondern die Armut für seine eigenen Bürger gleich mit", kritisiert Creswell-Turner. Außerdem leisteten die Gäste nur einen geringen Beitrag zum Konsum. "Sie wollen möglichst nichts ausgeben, um das Geld nach Hause zu überweisen", beobachtete er während seines Aufenthalts in Brixton.
Den schottischen Finanzminister Tom McCabe fechten derlei Bedenken freilich nicht an. Er will über eine Informationskampagne in Warschau Tausende von Arbeitswilligen nach Schottland holen - zusätzlich zu den bereits rund 20.000, die sich dort bereits niedergelassen haben. Die Verwaltung in Edinburgh will damit "einem bedrohlichen Bevölkerungsschwund" entgegenwirken.
Fast jeder fünfte Kleinbetrieb auf der Insel kann laut einer Untersuchung des Jobvermittlers Manpower nicht mehr auf die neuen Arbeitskräfte verzichten. Baufirmen haben bis 2010 gar einen Bedarf an 348.000 zusätzlichen Arbeitskräften. Allein in London stehen Großprojekte wie Bahnhöfe, U-Bahn-Erweiterungen und die Vorbereitungen für die Olympischen Spielen 2012 an.
Dennoch schließen Experten nicht aus, dass der Strom an billigen Arbeitskräften aus dem Osten letztlich nicht doch noch zu einem Politikum wird. Vielleicht schon 2007, wenn nach dem EU-Beitritt ihrer Länder geschätzte 40.000 Rumänen und 15.000 Bulgaren auf die Insel strömen werden. Dies zu einer Zeit, da sich der Anstieg der Arbeitslosigkeit - derzeit 5,3 Prozent - beschleunigt. Doch gleichzeitig erreichte die Zahl der Beschäftigten mit fast 29 Millionen einen neuen Rekord.