(21.05.2007)
Tatort Schulweg
In der 5. Klasse fing es an: Da hatte er zum ersten Mal ein Messer am Hals. So ging es weiter – und so geht es immer mehr Jugendlichen
. . .
So ist es schon oft abgelaufen, viel zu oft. Die Wohnungstür schlägt zu, Lukas*, 13 Jahre alt, steht im Flur. Blut tropft aus der Nase, seine Lippen sind geschwollen.
„Was ist denn los?“, fragt die Mutter.
„Nichts“, murmelt Lukas.
„Los, komm in die Küche, reden!“
Zwischen Herd und Kühlschrank erzählt Lukas dann die ewig gleichen Geschichten von den „Dreien von der Osloer“ oder den „Jungs in der Residenz“. Nachbarsjungen, die ihm wieder mal mit einem Messer aufgelauert, ihn geschlagen und getreten haben. Das Gespräch zwischen Mutter und Sohn endet, wie es immer endet: „Wir gehen zur Polizei“, beschließt Eveline Kramer. Nee, nicht, bettelt Lukas. „Das hilft doch nicht!“ Er hat Angst, dass es das nur schlimmer macht.
Dieses eine Mal hat sich die Mutter durchgesetzt, ist mit ihm zur Polizei gegangen. Jetzt hat Lukas bereits seinen zweiten Termin in der Berliner Direktion 3. Er trägt eine schwarze Baseballjacke, Jeans und Turnschuhe. Statt wie sonst an den Fingernägeln zu knabbern, lutscht er betont gelangweilt auf dem Ohrstöpsel seines MP3-Players herum. Zum Revier der Polizeidirektion 3 gehören Mitte, Tiergarten, Wedding, und mittendrin liegt der Kiez von Lukas. Für die meisten Jugendlichen, die hier aufwachsen, gehört es gewissermaßen dazu, dass man zuweilen beleidigt, bedroht, verprügelt und ausgeraubt wird. Die Polizei schätzt, dass in Problem-Kiezen wie diesem rund 80 Prozent der deutschen Jugendlichen zwischen zwölf und 18 schon mal Opfer einer Gewalttat geworden sind. Die meisten aber erwischt es öfter, so wie Lukas. Er glaubt auch nicht, dass sich daran etwas ändern könnte, selbst wenn seine Mutter mit ihm in die Provinz zöge. „Dann sind’s nicht mehr die Türken, dann sind’s eben die anderen“, sagt Lukas. Prügel nimmt er inzwischen hin wie eine Laune der Natur.
Es ist ein Kommen und Gehen in der Direktion 3, Perleberger Straße. Hier bekommen es die Polizisten jeden Monat mit 800 bis 900 jugendlichen Tatverdächtigen zu tun, knapp zwei Drittel sind ausländischer Herkunft. Jugendliche Gewalttäter, die oft aus Familien stammen, in denen die Väter zwar kein Wort Deutsch sprechen, aber immer das letzte Wort behalten. Familien, in denen das Faustrecht herrscht, wo Frauen das Kopftuch verordnet wird und die Ehre wichtiger als der Schulabschluss ist. Als Opfer einer gescheiterten Integrationspolitik gelten ihre Kinder, die den Spagat zwischen den zwei Kulturen auf Berlins Straßen auf ihre Art ausleben: „Wenn sie die kleinen Geschwister ins Bett und den Müll runtergebracht haben, spielen sie wilde Sau im Kiez“, sagt Christian Zorn, Jugendbeauftragter der Polizei in Mitte. Zorn ist Kriminaloberkommissar, könnte aber auch als Langzeitstudent aus Prenzlauer Berg durchgehen: 32 Jahre alt, ausgewaschene Jeans, Turnschuhe, im Ohr steckt ein silberner Ring.