Gruppenbeziehungen
Vorurteile haben nicht nur eine Funktion in psychischen, sondern auch in sozialen Konflikten und zwar für beide Seiten. In jedem Krieg wird der innere Zusammenhalt der Nation und die Bereitschaft, für sie zu kämpfen, durch eine negative Bewertung des Feindes "etwa durch intensive Propaganda" erzeugt oder verstärkt. Im Zweiten Weltkrieg stellte die britische Propaganda die Deutschen als "Hunnen" hin, verglich sie also mit dem in der europäischen Geschichte als besonders kriegerisch, grausam und unzivilisiert erinnerten Volk der Hunnen aus der Zeit der Völkerwanderung. Dagegen sprach die NS-Propaganda gegenüber Russen und Polen von "slawischen Untermenschen".
Mit der Entstehung und Mobilisierung von Vorurteilen in sozialen Konflikten hat sich die Gruppensoziologie befasst. Der amerikanische Sozialpsychologe Muzafer Sherif und seine Mitarbeiter haben bereits in den fünfziger Jahren berühmt gewordene Experimente durchgeführt, in denen sie in einem Ferienlager zwölfjährige Jungen willkürlich in zwei Gruppen einteilten und diese in Wettbewerbs- und Kooperationssituationen beobachteten. Dabei stellten die Forscher fest, dass die Konfliktsituation zu negativen Wahrnehmungen, Gefühlen und Handlungsweisen gegenüber der anderen Gruppe, zu verstärkter Aggressivität zwischen den Gruppen, zu einer Stärkung der Gruppenidentität und zur Bestrafung der "Abweichler" von der Gruppenmeinung führte. Brachte man die beiden verfeindeten Gruppen später in Situationen zusammen, in denen sie kooperieren mussten, lösten sich Vorurteile und Gruppenrivalität wieder auf.
Offenbar haben negative Bewertungen der fremden Gruppe eine integrierende Funktion für die Eigengruppe: Sie verstärken den Zusammenhalt und vergrößern die innere Homogenität, indem sie interne Spannungen und Konflikte überdecken. Damit erleichtern sie interne Entscheidungsprozesse und freundschaftliche Beziehungen, erzeugen höhere Motivation, für die Gruppe zu arbeiten, und erleichtern das Lernen der Gruppennormen. Diese als Ethnozentrismus (auf ganze Gesellschaften bezogen spricht man von Nationalismus) bezeichnete Haltung hat aber auch negative Wirkungen: die falsche Wahrnehmung anderer Gruppen, erhöhte Konfliktbereitschaft, da Fremdgruppen als potenziell bedrohlich erscheinen, und eine geringe Wandlungsfähigkeit, da man sich gegen fremde Einflüsse abschottet.
Es ist in der Sozialpsychologie umstritten, ob nur reale Interessenkonflikte und Wettbewerbssituationen zwischen Gruppen zu abwertenden Vorurteilen und zu Feindseligkeit führen, oder ob nicht auch andere soziale Problemlagen, die als Bedrohung der Gruppenposition erlebt werden, ähnliche Folgen haben können, zum Beispiel Wirtschaftskrisen, Einwanderung, Arbeitslosigkeit, Kriminalität. Neuere Forschungen heben die Bedeutung von Intergruppenangst als Ursache für die Entstehung von Vorurteilen hervor, wobei sie verschiedene Bedrohungsdimensionen unterscheiden:
- Reale Bedrohungen der ökonomischen oder sozialen Situation der Eigengruppe. Man sieht sich in einer Konkurrenzsituation mit Zuwanderern oder einheimischen Minderheiten: "Die Ausländer nehmen uns die Arbeitsplätze weg" oder "Die Aussiedler bekommen Wohnungen zugewiesen und wir nicht". Es reicht aus, dass sich Individuen oder Gruppen im Vergleich zu anderen benachteiligt fühlen, um entsprechende Vorurteile entstehen zu lassen. Die Sozialpsychologie spricht von "relativer Deprivation" (Benachteiligung), da es nicht um eine tatsächliche Verarmung, Arbeitslosigkeit oder Obdachlosigkeit einer Person oder von Gruppen gehen muss; es reicht, dass man andere als unberechtigterweise bevorzugt ansieht. Wichtig für die Vorurteilsbildung ist dabei nicht so sehr die individuelle relative Deprivation (Bezug von Sozialhilfe), sondern die kollektive oder fraternale (Bevorzugung von Gruppen bei der Sozialhilfe), die sich aus einem Vergleich mit einer Referenzgruppe ergibt.
- Symbolische Bedrohungen, die sich aus den wahrgenommenen Unterschieden in Kultur, Werten und Lebensstilen ergeben (heute etwa die Furcht vor dem islamischen Fundamentalismus).
- Gefühle der persönlichen Bedrohung in Kontakten mit Mitgliedern fremder Gruppen, über die negative Stereotype existieren (Stichwort: Ausländerkriminalität).
Moderne, in stetem Wandel begriffene Gesellschaften produzieren im Grunde ständig Situationen von Konkurrenz und Unsicherheit und damit Anlässe für Vorurteilsbildung, da immer Individuen und soziale Gruppen relativ zu anderen in ihrem sozialen Status absteigen und/oder neue ethnische Gruppen zuwandern. Im sozialen und ökonomischen Aufstieg der Juden von einer weitgehend verarmten und verachteten Randgruppe zu einer wohlhabenden bürgerlichen Minderheit in vielen europäischen Ländern im Laufe des 19. Jahrhunderts lag eine Wurzel für den modernen Antisemitismus, der in der Wirtschafts- und Modernisierungskrise des späten 19. Jahrhunderts zur politischen Bewegung und umfassenden Weltanschauung wurde. In ähnlicher Weise haben sicherlich der rapide soziale Wandel in den letzten beiden Jahrzehnten, der manche herkömmliche Kenntnisse und Fähigkeiten obsolet werden ließ, die mit der Globalisierung und der Zuwanderung erweiterte Konkurrenzsituation und die neoliberale Konkurrenzideologie ein Klima geschaffen, das die Entstehung von Vorurteilen und Abwehr des Fremden in Teilen der Gesellschaft begünstigt, insbesondere unter den so genannten Modernisierungs- oder Individualisierungsverlierern, die in der nationalistischen Überbewertung der Eigengruppe einen letzten Halt suchen.