Nachdem die Begriffe "soziale Gerechtigkeit" und "Chancengleichheit" in politischen Programmen recht häufig vorkommen, würde mich interessieren, wie ihr diese Begriffe definiert, wie wichtig sie euch programmatisch sind und wie ihr sie umsetzen würdet.
Ich selbst beginne einfach mal.
Unabhängig von den verschiedenen Definitionen halte ich beide Begriffe allein aufgrund ihres häufigen Auftretens für programmatisch höchst wichtig. Nicht zuletzt bezeichnet sich eine der beiden großen bundesdeutschen Volksparteien, die SPD, als die Partei der sozialen Gerechtigkeit. Daß mit beiden Begriffen vielfach eine besondere Emotionalisierung von Diskussionen einhergeht, daß sie in Wahl- und Parteiprogrammen Verwendung finden und Wirtschaftstheoretiker beschäftigen, unterstreicht ihre Bedeutung. Definitionen dieser Begriffe findet man allerdings kaum, deshalb füllt diese vielverwandten Begriffe jeder mit seiner eigenen Interpretation.
Ich beginne mit dem aus meiner Sicht etwas klareren Begriff der Chancengleichheit.
Für mich bedeutet Chancengleichheit, daß jeder gleichwertige Chancen hat. Daneben gibt es für mich das Prinzip des "Jeder bekommt eine Chance", was bedeutet, daß - obwohl die Chancen verschieden sein mögen - jeder zumindest eine einigermaßen gute Chance bekommt. Ich habe in Diskussionen festgestellt, daß für einige die Begriffe "Chancengleichheit" wie ich ihn verstehe und "Jeder bekommt eine Chance" zusammenfallen. Das tun sie meines Erachtens nicht. Eine Bewertung liegt aus meiner Sicht recht klar auf der Hand: Da Menschen verschieden sind - es gibt dumme und kluge, faule und fleissige, ungebildete und gebildete, ungeschickte und geschickte Menschen (wobei sich die Liste noch lange würde fortsetzen lassen) - und die mit dem jeweils zweiten Begrif der Begriffspaare ausgestatteten Menschen in aller Regel einen Vorteil, eben bessere Chancen, haben werden, ist echte Chancengleichheit ohne massivste Eingriffe in die Verschiedenartigkeit und Vielfalt von Menschen nicht zu erreichen. Da Intelligenz und körperliche Leistungsfähigkeit beispielsweise bis zu einem gewissen Grad durch die genetische Disposition bestimmt werden, müßte der genetische Faktor (etwa durch Klonen) ausgeschaltet und gleichgemacht werden, was ich für ethisch unverantwortlich halte.
Allerdings verlangen die sich aus dem Gesellschaftvertrag ergebenden Schutzpflichten des Staates und ethische Prinzipien wie das bürgerliche "jeder nach seinen Leistungen und Fähigkeiten", daß sowohl das Lebensnotwendigste als Startbedingung jedem gegeben wird als auch jeder bis zu einem gewissen Maß in die Lage versetzt werden muß, seine Leistungen und Fähigkeiten auch zu entfalten.
Nachdem ich echte Chancengleichheit auf den oben angeführten offensichtlichen Gründen ablehne, stellt sich also die Frage, bis zu welchem Grad und in welcher Anzahl denjenigen, die aus welchen unverschuldeten(!) Gründen auch immer im freien Wettbewerb schlechte oder gar keine rellen Chancen hätten, Chancen zu ermöglichen sind. Diese Frage ist nicht zuletzt eine der politischen Ausrichtung. Den Weg, Chancengleichheit auch und gerade nach Einsicht seiner Unerreichbarkeit zum Ziel zu erheben (damit man sich wenigestens darauf zu und damit in die "richtige" Richtung bewegt), lehne ich ab, da ich nicht der Meinung bin, aus zwielichtigen Zielen erwachse Gutes.
In gewisser Weise berührt die Frage - wie die der sozialen Gerechtigkeit - die Frage nach Eigentumsgarantie und Testierfreiheit, da klar sein muß, daß beide Ursachen für Chancenungleichheit sind. Beide bilden dennoch meiner Meinung nach völlig zurecht Grundpfeiler unserer Gesellschaft und sind überhaupt grundsätzlich in jeder freien Gesellschaft, die den Anspruch erhebt eine offene und freie zu sein, notwendig.
Ich bin der Meinung, zwischen Eigenverantwortung und Chancenausgleich muß ein Mittelweg gefunden werden, der eínerseits jedem Bürger mindest eine oder zwei brauchbare Chancen verschafft und andererseits Eigenverantwortung nicht aus dem Auge verliert.
Im Begriff soziale Gerechtigkeit ist der Gerechtigkeitsbegriff, der eine allgemein anerkannte Bedeutung hat, enthalten. Soziale Gerechtigkeit definieren allerdings die meisten Menschen höchst individuell.
"Niemand hat bis jetzt eine einzige allgemeine Regel herausgefunden, aus der wir für alle Einzelfälle, auf die sie anzuwenden wäre, ableiten konnten, was 'sozial gerecht' ist." Inhaltlich werden dem sehr viele zustimmen, aber schon die Tatsache, daß hier Friedrich August von Hayek zitiert wird, stößt vermutlich einigen als neoliberale Provokation übel auf. Die Befürchtung, ich könnte den weiteren Ausführung von von Hayek zustimmen, ist gewissermaßen berechtigt, denn ich zitiere ihn zunächst in voller Zustimmung weiter:
"Mehr als zehn Jahre lang habe ich mich intensiv damit befasst, den Sinn des Begriffes "soziale Gerechtigkeit" herauszufinden. Der Versuch ist gescheitert; oder besser gesagt, ich bin zu dem Schluss gelangt, dass für eine Gesellschaft freier Menschen dieses Wort überhaupt keinen Sinn hat."
Gerechtigkeit beruht unter anderem darauf, daß gleiche Regeln für alle gelten. Gerade das wollen aber die Verfechter der "sozialen Gerechtigkeit" in der Politik nicht. Sie wollen nicht, daß alle nach einer gleich angewandten Regel behandelt werden, sondern wollen letztendlich materielle umverteilen. Dies können sie nur, wenn sie ungleich behandeln. Gleichzeitig suggerieren sie, es gebe einen umfassenden moralischen Maßstab für diese Umverteilung. Wie von Hayek zu Recht feststellt, gibt es einen solchen Maßstab allerdings nicht.
Kurz: Wie von Hayek meine ich, daß der Begriff "soziale Gerechtigkeit" eine contradictio in adjecto darstellt.
Daß mag vielen herzlos, kalt und neoliberal erscheinen.
Anders als von Hayek (deshalb oben das "gewissermaßen") lehne ich soziale Gerechtigkeit allerdings nicht aufgrund ihres begrifflichen inneren Widerspruchs völlig ab oder komme zu dem Schluß, das freie Spiel der Kräfte werden schon alles zum Besten richten. Auch bin ich nicht wie Hayek 1981 der Meinung, "der vorherrschende Glaube an soziale Gerechtigkeit ist gegenwärtig wahrscheinlich die schwerste Bedrohung der meisten anderen Werte einer freien Zivilisation", obwohl auch ich eine Bedrohung sehe. Ich bin allerdings der Meinung, die materiellen Wohltaten des liberalen Staates müssen an das Prinzip der Freiheitswahrung und der allgemeinen Rechtsgleichheit gebunden bleiben, wie Edmund Burke es formulierte.
Was mich an sozialer Gerechtigkeit abstößt, ist also zum einen der Name. Wer umverteilen will - und bis zu einem gewissen Maß mag das gerade aus dem begründeten Bedürfnis heraus geschehen, jedem eine Chance zu geben - sollte die klar sagen und nicht hinter dem Schild der Gerechtigkeit verstecken. Daß dies selbst vermutlich ein Wunschtraum ist, dessen bin ich mir bewußt.
Zum anderen darf soziale Gerechtigkeit nicht vorgeschoben werden, um Transfers von einer gesellschaftlichen Gruppe - oft Parteiklientel - zu einer anderen in beliebiger und in ideologischer Absicht festgesetzter Höhe zu erlauben.
Grüße
John