MDR / 30.03.2022 / von Nil Werner
NATO-OSTERWEITERUNG
Wurde die Sowjetunion über den Tisch gezogen?
Am 12. September 1990 unterzeichnen die Bundesrepublik, die DDR und die vier Siegermächte des Zweiten Weltkriegs in Moskau den
"Zwei-Plus-Vier-Vertrag". Am 4. März 1991 ratifizierte ihn die Sowjetunion als
letzter der Unterzeichnerstaaten, elf Tage später tritt der Vertrag in Kraft. Ob der Kreml bei den Vertragsverhandlungen über den Tisch gezogen wurde, darüber tobt bis heute ein
erbitterter Streit.
Im Moskauer Hotel "Oktober" unterzeichneten am 12. September 1990 die Außenminister der beiden deutschen Staaten und der vier Siegermächte den Vertrag über die äußeren Aspekte der deutschen Einheit. Nach rund 45 Jahren erhält Deutschland damit seine volle Souveränität zurück.
Waren es sorgsam ausgelegte Fallstricke oder alles nur ein Missverständnis? Was Wladimir Putin und seinen Außenminister Sergej Lawrow anbelangt, ist die Sache klar:
Für sie symbolisiert jener 12. September 1990, das Datum der Unterzeichnung des Vertrags, den
"Verrat des Westens". Ein gebrochenes Versprechen. Denn damals, so ihre Lesart, hätten sich die West-Allierten die russische Zustimmung zum Projekt Deutsche Einheit quasi erschlichen. Mit einer mündlichen Zusicherung: Die Nato werde ohne Zustimmung des Kreml um keinen Zoll in den Osten vordringen. Wladimir Polenow war 1990 Teilnehmer bei den Verhandlungen und sagt heute:
"Es war ein Fehler, dass man diese Zusicherungen gegenüber der Sowjetunion, dass die Nato im Osten nicht erweitert wird, nicht schriftlich festgehalten hat. Das war ein sehr großer Fehler. Jetzt müssen wir die Suppe auslöffeln und mit den Folgen dieses Fehlers leben."
Die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen - Machtkampf um die deutsche Einheit
Ob es echte Zusicherungen gab oder ob man in Gesprächen einfach nur verschiedene Lösungsansätze besprach, wie etwa der ehemalige US-Außenminister James Baker bis heute behauptet, das war über Jahrzehnte hinweg Gegenstand erhitzter Debatten. Erst mit der Öffnung
amerikanischer Archive 2017 kamen
neue Fakten ans Licht. Sie haben ganz offensichtlich entscheidend mit dazu beigetragen, dass viele der damals beteiligten Diplomaten ihre bislang versiegelten Lippen nun öffnen. In der MDR-Dokumentation
"Die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen - Machtkampf um die deutsche Einheit" kommen sie erstmals ausführlich zu Wort. Und ihre Erinnerungen bzw. Korrekturen anderer Erinnerungen tragen erheblich zur Aufklärung bei.
Das Vorspiel oder deutsch-amerikanische Freundschaftsdienste
Als Helmut Kohl am 28. November 1989 überraschend (im Ergebnis einer verunglückten Initiative sowjetischer Diplomaten) seinen Zehn-Punkte-Plan für Deutschland verkündet, schrillen im Auswärtigen Amt die Telefone. In Paris und London ist man "not amused" über diesen unangekündigten Vorstoß - ganz zu schweigen von Moskau. Als Außenminister Hans-Dietrich Genscher wenige Tage später dort eintrifft, um die Wogen zu glätten und für die Vision eines neuen, geeinten Deutschlands zu werben, wird seine Delegation Zeuge eines furiosen Auftritts, an den sich Dieter Kastrup, 1990 bis 1995 Staatssekretär im Auswärtigen Amt und Leiter der Delegation der Bundesrepublik Deutschland bei den Verhandlungen zum Zwei-plus-Vier-Vertrag, so erinnert:
Ich habe noch nie an einem politischen Gespräch teilgenommen, wo der Gesprächspartner seinem Zorn so ungebremst Lauf gelassen hat. Gorbatschow warf dem Bundeskanzler vor, sich in die inneren Angelegenheiten der DDR einzumischen. Nach diesem Gespräch war es für mich nicht vorstellbar, dass die Sowjetunion in absehbarer Zeit einem Prozess zustimmen könnte, an dessen Ende in absehbarer Zeit die Vereinigung unseres Landes stünde.
Volle Unterstützung bekommt die Bundesregierung zu diesem Zeitpunkt ausschließlich von der
US-Regierung unter Präsident George Bush. Denn hier erkennt man schnell die einmalige Chance, mit einem vereinten Deutschland auch die
eigene Führungsrolle in Europa zu festigen. Und so warten beim Besuch Hans-Dietrich Genschers Anfang Februar in Washington die Mitarbeiter von US-Außenminister James Baker bereits mit einem eigenen Schlachtplan auf.
Bundeskanzler Kohl: Deutschland muss Nato-Mitglied sein
Mit
amerikanischer Hilfe wird es tatsächlich gelingen, alle Ansprüche anderer Länder
zurückzuweisen, die auf
Beteiligung an diesem Prozess drängen. Unter welchen Umständen die Nachkriegsordnung beendet wird, das – so machen die USA unmissverständlich klar – bestimmen einzig und allein die Siegermächte
USA, Großbritannien,
Frankreich und der
Sowjetunion, gemeinsam mit der Bundesregierung und den gerade flügge gewordenen Juniorpartnern aus der DDR.
Soviel Unterstützung gibt es freilich
nicht umsonst. Mit Washingtons Einsatz können Kohl und Genscher nur rechnen, wenn sie eine
Prämisse akzeptieren und selbst verteidigen:
Das neue, vereinte Deutschland müsse Nato-Mitglied sein - eine immense Hypothek für die anstehenden Verhandlungen mit dem Kreml. Gorbatschows kleiner Tobsuchtsanfall in Moskau hat schließlich gezeigt, wieviel Souveränität die Siegermacht bereit ist, in der deutschen Frage Deutschen zu gewähren.
Strategische Interessen der Sowjetunion sollen scheinbar berücksichtigt werden
Noch in Washington ersinnt Hans-Dietrich Genscher daher ein
Ablenkungsmanöver. Gemeinsam mit dem US-Außenminister verkündet er, dass der Westen bei allen anstehenden Verhandlungen und Gesprächen selbstverständlich
Rücksicht auf die strategischen Interessen der Sowjetunion nehmen wird.
"Wir waren uns einig, dass nicht die Absicht besteht, das Nato-Verteidigungsgebiet auszudehnen nach Osten", erinnert sich Genscher später. "Das gilt übrigens nicht nur in Bezug auf die DDR, die wir nicht einverleiben wollen, sondern das gilt ganz generell."
Tage später beim Besuch in Moskau wird James Baker noch einmal auf diese Zusicherung zurückkommen. Er und seine Mitarbeiter wissen: Nur so wird sich eine Tür für
Verhandlungen überhaupt erst öffnen. Und ihre
Strategie geht auf. Jack Matlock, 1990, US-Botschafter in Moskau:
"Ich erinnere mich an Bakers Worte: 'Sie müssen nicht gleich antworten, aber denken Sie darüber nach. Angenommen, die Nato dehnt sich nicht weiter nach Osten aus, keinen Zentimeter: Wäre es dann nicht besser für die zukünftige Stabilität der Welt, wenn Deutschland in die Nato eingebunden wäre und Amerika wäre weiterhin militärisch in Europa präsent?' Gorbatschow antwortete: 'Jede Nato-Erweiterung nach Osten wäre selbstverständlich inakzeptabel. Aber ich verstehe, was Sie meinen. Und ich will gründlich darüber nachdenken.'"
Finanzielle Hilfe für die Sowjetunion
Der Weg scheint also bereitet, als die Vertreter der sechs Länder am 5. Mai in Bonn erstmals aufeinandertreffen. Doch vor Ort zeigt sich: Die Sowjets sind noch weit davon entfernt, die "Kröte" Nato mal eben zu schlucken. Außenminister Eduard Schewardnadse pocht vielmehr darauf, dass die politische wie militärische Neutralität Deutschlands unabdingbar für eine Einigung sei.
Zwei plus vier Parteien verlassen den Schauplatz, vorerst ohne jedes greifbare Ergebnis.
Es scheint, als seien die Planspiele von Washington für die Katz. Doch in Bonn gibt man sich zuversichtlich. Denn hinter den Kulissen bewegt sich etwas. Nur einen Tag vor Beginn der Verhandlungen in Bonn erst hatte derselbe Eduard Schewardnadse die Bundesrepublik telefonisch um finanzielle Hilfen ersucht. Und die gleiche Bitte - welch bittere Ironie - auch an den Ministerpräsidenten des kleinen ex-sozialistischen Trabanten DDR, Lothar de Maizière, gerichtet:
"Schewardnadse sagte: 'Wir werden im nächsten Monat zahlungsunfähig. Und wenn das passiert, wird Gorbatschow auf dem Parteitag Anfang Juli nicht wiedergewählt. Und dann kriegen wir diesen Vertrag mit euch nicht hin.'"
Bundeskanzler Helmut Kohl schickt am 14. Mai seinen Vertrauten Horst Teltschik mit
Vertretern deutscher Großbanken nach Moskau. Im Gepäck eine
Kreditzusage über
fünf Milliarden Mark. Die Liquiditätshilfe, lässt Teltschik durchblicken, ist für die Bundesregierung
"Teil eines Gesamtpakets".
Sprich: Man erwartet von Michail Gorbatschow Zugeständnisse in der Nato-Frage.
14 Tage später sind Gorbatschow und Schewardnadse selbst in Washington. Wieder geht es um Hilfspakete. Wieder kommt man auf das politische Gesamtpaket zurück. Der einzige Unterschied: Die Amerikaner zeigen deutlich weniger Skrupel, die Daumenschrauben fester anzuziehen. James Baker, damals US-Außenminister:
Ich erinnere mich an die Diskussion im Konferenzraum des Weißen Hauses. Wir stellen Gorbatschow die Frage: Glauben Sie, dass jedes Land wählen darf, welchem Sicherheitsbündnis es sich anschließen will? Und er sagte: Ja, natürlich. (James Baker)
Bob Zoellick,
Chefstratege im
US-Außenministerium, erinnert sich so:
"Ich schickte Präsident Bush eine Notiz, in der ich ihn bat, diesen Punkt zu wiederholen. Also wiederholte er den Punkt. Und Gorbatschow akzeptierte ihn. Aber zugleich konnte man sehen, wieviel Unruhe auf der sowjetischen Tischseite aufkam. Das war einer der ungewöhnlichsten diplomatischen Momente, die ich je erlebt habe. Man konnte seine Delegation, Schewardnadse und die Generäle, bei diesem Schachzug förmlich zusammensinken sehen."
Gewinner und Verlierer
Es scheint von diesem Moment an alles gelaufen. Gorbatschows Unterschrift unter den Pakt: reine Formsache. Und doch dringt von den Gesprächen und Zusagen
nichts nach außen.
Der Grund:
Die US-Regierung ebenso wie ihre Bonner Verbündeten wissen, dem Kremlchef stehen in Moskau heiße Wochen bevor. Kommunistische Hardliner setzen der Führung schon lange zu. Und Radikalreformer wie Boris Jelzin wiederum fordern die komplette Umgestaltung des politischen Systems.
Beim für Anfang Juli angesetzten 28. Parteitag der KPdSU ist so nur eines sicher: Man wird Gorbatschow dort mächtig in die Zange nehmen. Und es könnte eng werden für den einst umjubelten Mann an der Spitze.
Erst recht, wenn jemand von seinen heimlichen Zugeständnissen an die Amerikaner erfährt.
Mit deutlichen Blessuren, aber von Zwei Dritteln der 4.600 Delegierten wiedergewählt, geht Michail Gorbatschow noch einmal als Sieger aus diesem Machtkampf hervor. Und der ersehnten Vollmacht, die Verhandlungen zum Zwei-Plus-Vier-Vertrag zu Ende zu bringen.
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