BaZ: Herr Guggenbühl, Sie arbeiten mit jungen Flüchtlingen, die meist aus Machokulturen kommen. Nehmen diese Sie ernst?
Allan Guggenbühl: Viele erleben unsere Männer als schwach. Sie nehmen eher jene ernst, die väterlich-männlich auftreten und wortkarg bleiben. Sie sind oft überfordert, wenn man sie auf ihre Gefühle anspricht, oder reagieren allergisch auf einen empathischen, gesprächsbereiten Psychologen.
Sie tragen das Haar eher lang und wollen auch reden.
Äusserlichkeiten sind nicht zentral, wenn sie etwas von mir wissen wollen, dann, welches Auto ich fahre.
Und?
Ich wohne in der Stadt, da braucht man kein Auto.
So verschaffen Sie sich kaum Respekt.
Entscheidend ist, dass ich mich nicht anbiedere und ihnen klar signalisiere, dass ich nur mit ihnen arbeite, wenn es sich lohnt, wenn sie ihren Anteil leisten. Versager würden mich nicht interessieren.
Beeindruckt das einen Minderjährigen, der ohne Eltern geflüchtet ist und monatelang unterwegs war, bevor er hier ein Asylgesuch stellte?
Viele dieser Jugendlichen sind nicht Flüchtlinge, wie wir uns das vorstellen. Sie kommen nach Europa, weil sie eine Perspektive im Leben suchen; wirtschaftlicher Misere entfliehen. Einige stammen sogar aus guten Schichten, wie ein junger Afghane in unserer Gruppe. Er liess uns deutlich spüren, dass er aus einer Oberschicht-Familie stammt. Als er 14 Jahre alt war, schickte ihn seine Mutter nach Europa.
Das ist sehr jung für so eine Reise.
Ja. Doch die Reise besteht nicht aus tage- oder wochenlangen Fussmärschen. Oft handelt es sich um organisierte Trecks, für die die Familien viel Geld aufwenden. Sie wählen diesen Weg, weil sie nicht legal nach Europa reisen können. Etliche dieser Jugendlichen legen sogar Reiseetappen mit dem Flugzeug zurück. So auch der junge Afghane. Seine Familie bezahlte für einen Flug in den Irak. In Europa suchen sie den Kontakt zu wirklichen oder angeblichen Familienmitgliedern. Dabei stehen sie ständig über das Handy im Kontakt mit ihrer Familie im Heimatland.
Wer zahlt die Telefonrechnungen?
Die Schweizer Betreuer versuchen Lösungen zu finden, oft zahlt schliesslich das Sozialamt. Die Jugendlichen realisieren rasch, dass sie über Skype oder Whatsapp gratis telefonieren können.
Sie schildern Einzelfälle.
In den zehn Jahren, in denen ich mit Jugendlichen arbeite, die als sogenannte unbegleitete minderjährige Asylsuchende in die Schweiz kamen, fiel mir immer wieder auf, dass sich viele freiwillig auf den Weg nach Europa gemacht haben. Sie kommen zwar aus Ländern mit katastrophalen Wirtschaftslagen und problematischen Regimes. Aber persönlich wurden sie nicht verfolgt oder bedroht. Sie wandern aus, weil sie keine beruflichen Chancen haben, sich langweilen und aus ihrem Leben etwas machen wollen.
Woher wissen Sie das?
Wir arbeiten bis zu zwei Jahre lang intensiv mit ihnen. Auf die Dauer ist es schwierig, eine Show abzuziehen und Geschichten zu erzählen. Wir erfahren viel von ihrer Heimat, ihren Familien und eben auch darüber, aus welcher Motivation und wie sie hierhergekommen sind.
Aber keine Mutter schickt ihr minder*jähriges Kind allein auf eine so weite und gefährliche Reise.
Die Familie hat in diesen Kulturen meist eine andere Bedeutung. Es handelt sich eher um Clans. In solchen Strukturen ist die emotionale Bindung zwischen Eltern und Kindern nicht so eng wie in unseren Kleinfamilien. Die Jugendlichen definieren sich über ihre Grossfamilie, denen abgöttisch verehrte, jedoch distanzierte Mütter vorstehen. Helikoptereltern, wie wir sie kennen, gibt es in diesen Kulturen nicht. Kinder verlassen das Elternhaus früher als bei uns.
Warum landen diese Jugendlichen dann bei Ihnen?
Weil sie Probleme mit unserer Kultur haben, gewalttätig oder renitent wurden. Sie sind frustriert. Sie kamen nach Europa, um hier Geld zu verdienen oder etwas zu lernen, Erfahrungen zu sammeln. Sie wollen nicht herumhängen und therapiert werden. Viele können schlecht mit der Art umgehen, wie wir ihnen helfen. Sie wollen nicht einfach Hilfe bekommen, sind von unserer Art, ihnen zu helfen, sie zu umsorgen, überfordert. Dann droht eine Infantilisierung.
Wie äussert sich das?
Sie beginnen immer mehr Ansprüche zu stellen. Der junge Afghane etwa war empört, als man ihm aufgrund seiner Regelbrüche die Sozialhilfe kürzte.
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