„Geschichtsfälscher“ - sowj. Propaganda oder Entlarvung?
Beim Aussortieren von Büchern fiel mir heute Nacht eine noch ungelesene Broschüre in die Hand. Die 70 Seiten aus dem „Sowjetischen Informationsbüro“ von 1948 waren schnell durchgelesen. Der sowjetische Sinn und Zweck des Ribbentrop-Molotow-Vertrages von 1939, wird, ohne die Erwähnung des geheimen Zusatzabkommens über die einvernehmliche Verständigung über Interessengebieten in Osteuropa, als Friedenssicherungsmaßnahme gemäß der Völkerbundideologie beschrieben. Die spätere sowjetische Besetzung ihrer Interessengebiete in Osteuropa – nach dem Polenkrieg – , wird als Vorbeugemaßname, „Schutz der kleinen Staaten“ und vorgeschobener sowjetischer Schutzwall gegen eine vermutete Nazi-Aggression ausgedeutet. Nebenbei erfährt man aber auch Unglaubliches über die Beschwichtigungspolitik der westlichen Demokratien gegenüber „Nazideutschland“ und die Isolierung der Sowjetunion durch die „demokratischen Antibolschewisten“. Was Molotow 1940 wirklich in Berlin wollte, wird verraten. Das geheime Ränkespiel Churchills und Trumans in der Anti-Hitler-Koalition wird entlarvt. Weitere Enthüllungen aus der sowjetischen Spionageabteilung, lassen sich nicht einfach als Propaganda abtun, sondern lösen manches Rätsel für den Geschichtsinteressierten.
Der Text der Propaganda- und Aufklärungsbroschüre ist mehrfach im Netz zu finden.
Was sagen die hiesigen Geschichtsexperten zu den Darstellungen in „Geschichtsfälscher“?
„Diese Broschüre wurde erstmalig im Februar 1948 vom Informationsbüro der Ministerrats der UdSSR veröffentlicht. Sie gibt einen Überblick über den ‘tatsächlichen Verlauf der Vorbereitung und Entwicklung der Hitleraggression und des zweiten Weltkrieges’ (Untertitel). Sie entlarvt damit zugleich auch die sozialdemokratischen und trotzkistischen Verleumdungen der Außenpolitik Stalins (‘Paktierertum des roten mit dem braunen Diktator’ u. ä., wie bürgerliche Geschichtsschreiber es nennen). (Anmerkung aus KPD/ML-Broschüre 1972)
Inhaltsverzeichnis und Originaltext:
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14.02.1948 DER SPIEGEL 7/1948:
Papierkrieg
In separater Gemeinschaftsarbeit veröffentlichen die Alliierten eine Historie des zweiten Weltkrieges. Die Amerikaner übernahmen das Kapitel Rußland - Deutschland, in dem sie die Zusammenarbeit der Nazis und Sowjets von 1939 bis 1941 schildern. Bei der ersten Rezension griffen die Kreml-Kritiker zu der Bezeichnung "Geschichtsfälscher" und noch tiefer in die Goebbels-Vokabeln. Sie beanstanden, daß die Veröffentlichungen ausgerechnet eine für Rußland peinliche Zeitspanne beschreiben, während die Epoche der englisch-französischen Beschwichtigungspolitik unberührt bleibt. Und daß kein Wort über den Regen amerikanischer Dollars fiel, "der Hitler die finanzielle Möglichkeit gab, seine Kriegsmaschine zu bauen". Die Kreml-Verleger begannen, die dazu notwendigen Ergänzungen aus ihren Beutearchiven zu veröffentlichen. Es wird ein Roman in Fortsetzungen. Auch die Franzosen versprachen, ihr Dokumenten-Scherflein beizutragen.
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Prof. Dr. Boris Khavkin/Moskau: Kontroversen über den Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges in der russischen Historiographie.
[Links nur für registrierte Nutzer]Im Ergebnis interalliierter Übereinkünfte wurde 1946 das Thema der sowjetisch-deutschen Beziehungen 1939–1941 wie auch einige andere Themen (1) aus der Erörterung auf dem Nürnberger Prozeß ausgeklammert. Im Text des Urteils des Internationalen Militärgerichtshofes werden die sowjetisch-deutschen Geheimdokumente von 1939–1941 nicht erwähnt.
Trotzdem wurde in Nürnberg das Schweigen über die hinter den Kulissen gelaufenen deutsch-sowjetischen Beziehungen doch gebrochen.
1948 wurden die diplomatischen Dokumente des deutschen Auswärtigen Amtes, die die
Materialien über die sowjetisch-deutschen Beziehungen von 1939–1941 enthielten, vom US-Außenministerium („Department of State“) in deutscher und englischer Sprache herausgegeben.
Die „Sammlung von Leosch“ bildete die Quellenbasis für die Publikation der Dokumente über die „Nazi-Soviet Relations“.
Seit dieser Zeit begann ein amerikanisch-sowjetischer „Dokumentenkrieg“. Eine sowjetische Antwort auf das Buch „Nazi-Soviet Relations“ war die Broschüre „Geschichtsfälscher. (Historische Auskunft)“, die 1948 herauskam.
In dieser Broschüre erklärte die Stalinsche Propaganda die Unterzeichnung des sowjetisch-deutschen Nichtangriffsvertrages zu einem „weitsichtigen und weisen Schritt der sowjetischen Außenpolitik in der damals entstandenen Situation“.
Ganz im Geiste der historischen Auskunft „Geschichtsfälscher“ leugnete die sowjetische Historiographie ein halbes Jahrhundert lang schon allein den Fakt des Bestehens der sowjetisch-deutschen Geheimabkommen von 1939–1941. Alle offiziellen sowjetischen historischen Werke gingen von der „Präsumption der Fälschung“ der Geheimdokumente aus.
Erst 1988, bei einem Gespräch zwischen Generalsekretär Michail Gorbaev und Bundeskanzler Helmut Kohl, kam die Rede auf die Geheimprotokolle zum Molotov-Ribbentrop-Pakt. Helmut Kohl sagte (offenbar aus Versehen oder weil er die „Sammlung von Leosch “ nicht für Kopien des Originals, sondern für das Original selbst hielt), die Archivare in Bonn hätten nicht nur Kopien, sondern auch die Originale der geheimen Beilagen zum Pakt.
Auf solche Weise kamen 1988 die deutschen Kopien „offiziell“ in die UdSSR und gerieten sofort in den Strudel der großen Politik.
[...]
In der modernen Geschichtsschreibung ist es international anerkannt, dass der am 22.Juni 1941 begonnene Überfall Nazi-Deutschlands auf die Sowjetunion trotz des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes und des Friedens- und Freundschaftsvertrages statt fand.
Das war kein Präventivkrieg, sondern die reine Aggression.
Anmerkung
1) Zu dem auf dem Nürnberger Prozeß bestätigten Verzeichnis von Fragen, die nicht der Erörterung unterlagen (um gegenseitige Anschuldigungen der Verteidigung gegen die Regierungen der Länder der Antihitler-Koalition zu verhindern), gehörten:
„1. Fragen, die mit der sozialpolitischen Ordnung in der UdSSR zusammenhingen.
2. Die Außenpolitik der Sowjetunion:
a) der sowjetisch-deutsche Nichtangriffspakt von 1939 und Fragen, die darauf Bezug hatten (Handelsvertrag, Grenzziehung, Verhandlungen usw.);
b) Ribbentrops Moskau-Besuch und die Verhandlungen im November 1940 in Berlin;
c) die Balkan-Frage;
d) die sowjetisch-polnischen Beziehungen.
3. Die baltischen Sowjetrepubliken.“– (Ebenda, S. 127–128.)