SPD, Grüne und Linke lassen bei ihren Koalitionsverhandlungen Berlins Probleme außen vor – und planen eine Musterstadt für Gegner der Leistungsgesellschaft. Und der Bürgermeister? Völlig ratlos.
Da sitzen sie: 24 Menschen an einem dreieckigen Verhandlungstisch, der von oben wie das Auge Gottes in einem Renaissancegemälde aussieht. Und keiner vertraut dem anderen: „Nicht nur, dass sich die Parteien nicht trauen – auch innerhalb der Parteien traut keiner dem anderen“, sagt einer, der dabei ist, aber wegen dieses Misstrauens namentlich nicht genannt werden will. Willkommen bei den Koalitionsverhandlungen zu Rot-Rot-Grün in Berlin.
Eigentlich müsste es leicht sein, ein Regierungsprogramm für den neuen Senat zu beschließen. Denn jeder Berliner kennt die Probleme der Stadt: die Arbeitslosigkeit, die mit über neun Prozent viel zu hoch ist für eine Großstadt; die öffentlichen Schulen, die Chancenverhinderungsanstalten gleichen und regelmäßig bei bundesweiten Vergleichen am schlechtesten abschneiden; die öffentliche Verwaltung, die überaltert und untermotiviert ist; die Kriminalität, die etwa bei Diebstahl und Gewaltverbrechen die höchste beziehungsweise zweithöchste Rate in Deutschland aufweist; und die Mieten, die in den letzten sechs Jahren um fast die Hälfte, in angesagten Kiezen in den Ortsteilen Kreuzberg und Neukölln sogar um beinahe 100 Prozent gestiegen sind.
Was aber hört man aus den Koalitionsverhandlungen? Vom Verbot sexistischer Werbung ist die Rede, von flächendeckender Parkraumbewirtschaftung und Ausdehnung der Tempo-30-Zonen, von der Verwandlung des Boulevards Unter den Linden in eine Fußgängerzone, von der Cannabis-Legalisierung, der Abschaffung des Probejahrs an Gymnasien, einem Votum gegen das Ceta-Handelsabkommen im Bundesrat. Kurzum: von der Verwandlung Berlins in eine Umerziehungszone für Chauvis und Autofahrer und eine Musterstadt für Gegner der Leistungsgesellschaft. Kann man machen, wenn man bei der nächsten Wahl der AfD zur Mehrheit verhelfen will. Muss man aber nicht.
Wie konnte es überhaupt so weit kommen? Nach der Wahl wurde „R2G“ rechnerisch möglich; es sprach sogar demokratietheoretisch einiges dafür, die bis dahin eher uninspiriert agierende große Koalition aus den zwei Nicht-mehr-Volksparteien SPD und CDU abzulösen. Was aber Rot-Rot-Grün politisch wollen könnte, war niemandem klar. So gab man die möglichst inhaltsleere Losung „Gutes Regieren“ aus – und lieferte prompt ein Beispiel dafür, wie man schlecht regiert.
Denn es wurden sage und schreibe 14 Arbeitsgruppen gebildet, um Vorschläge für die Politik des neuen Senats zu entwickeln. In diesen Gruppen brachten die Experten und Lobbyisten aller drei Parteien ihre Steckenpferde ein: mehr Fahrradwege und billigere Kitas, Coaching für Lehrer, Wohnungen für Flüchtlinge und was der schönen und weniger schönen Dinge mehr am grünen Tisch ausgedacht werden kann.
Vor allem die Linkspartei meldete täglich ihrer Klientel, was sie hier alles durchgesetzt habe. „Bulletpoint für Bulletpoint“, wie es heißt. Auch wenn die Finanzexperten in der Partei und diejenigen, die gern mehr als nur wenige Jahre mitregieren würden – der frühere Wirtschaftssenator Harald Wolf etwa und sein Bruder Udo – darüber den Kopf schüttelten. Die Grünen und die Linken in der SPD wollten da nicht nachstehen, und so kam es zu einem Wettlauf: Unser Dorf soll schöner werden, jedenfalls grüner, gerechter, gemütlicher.
SPD-Chef Michael Müller, immer noch Regierender Bürgermeister und Chef einer großen Koalition, künftig Regierender und Chef von „R2G“, sitzt zwischen allen Stühlen, die personifizierte Ratlosigkeit. „Er ist ein kalter Fisch. Man weiß nicht, was er will“, heißt es aus der Koalitionsrunde. Allenfalls, was er nicht will.
Was ist die große Erzählung des neuen Senats? Sie ist nicht zu greifen. Müller steht zwischen zwei Mahlsteinen: seinen Koalitionspartnern, die zusammen mehr Sitze haben als seine SPD, auf der einen Seite – und der AfD, die bald im Abgeordnetenhaus sitzen wird, auf der anderen Seite. Eigentlich beschränkt sich Müller darauf, die Linke auszubremsen, wo er es kann: Es bleibt beim Probejahr an Gymnasien, die Tempo-30-Zonen werden maßvoll ausgedehnt, es kommt nicht zu einem riesigen staatlichen Wohnungsbauprogramm und bei Ceta wird sich Berlin im Bundesrat enthalten.
Neben ihm am Dreieckstisch sitzt Raed Saleh, der als Fraktionsvorsitzender der SPD im Abgeordnetenhaus dafür sorgen muss, dass Müller regieren kann. Saleh sagt kein Wort. Er, der sich für den besseren SPD-Chef und Bürgermeister hält und seiner Partei nach Müllers miserablem Wahlergebnis den Charakter einer Volkspartei abgesprochen hat, will anscheinend klarmachen: Das badet Müller jetzt allein aus.
Bei den Grünen ist das Misstrauen sogar institutionalisiert. Neben dem Berliner Viererteam unter Ramona Pop sitzen vier Aufpasser – der Europaabgeordnete und frühere Parteichef Reinhard Bütikofer, der Finanzpolitiker und Realo Jochen Esser, die Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, Monika Herrmann, sowie die Bundestagsabgeordnete Lisa Paus. Sie sollen dafür sorgen, dass die Berliner Grünen, die seit 25 Jahren keine Erfahrung in der Exekutive haben, die Bodenhaftung nicht verlieren.
„R2G“ darf nämlich nicht scheitern. Auf allen Seiten des Dreieckstisches hat man 2017 im Hinterkopf. Wie ist es, wenn es nach der Bundestagswahl für Rot-Rot-Grün im Bund reicht? Wird Sigmar Gabriel springen? Den Erfahreneren in der Grünen-Führung ist die Vorstellung ein Graus.
Winfried Kretschmann (wie Bütikofer und Esser ein früheres Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschland und daher allen linken Experimenten abhold) hat neulich in der Talkshow „Menschen bei Maischberger“ gesagt, dass Merkel ihren Job gut mache und eigentlich die Wunschkanzlerin der Grünen sei. Parteichefin Simone Peter widersprach. Denn wenn es für Schwarz-Grün nicht reicht, für „R2G“ aber doch, werden die Grünen mitmachen. Und da ist Berlin ein Testlauf. Auch für die Biegsamkeit des eigenen Personals.
Noch tagen die entscheidenden zwei Arbeitsgruppen: Personal und Finanzen. Von ihnen vor allem hängt ab, was von den ambitionierteren Programmen der Arbeitsgruppen – etwa zur Modernisierung der maroden Schulbauten und zur Besserbezahlung der Grundschullehrer – übrig bleibt.
Einigermaßen typisch ist, dass die Zahl der neu zu bauenden Sozialwohnungen relativ bescheiden ausfällt, dass man sich aber auf 100 neue Stellen für die Bau- und Wohnungsämter schon geeinigt hat. Wie das in der allgemeinen Verwaltung, bei der Polizei und den Lehrern – abgesehen von „Coaches“ und ähnlichen Angeboten – aussehen soll, sagen die Koalitionäre nicht.
Also dürfen die Berliner, wenn nicht alles täuscht, davon ausgehen, dass sie auch 2017 Monate auf einen Personalausweis oder einen Gewerbeschein warten müssen; dass die Polizei weiterhin zwar Verbrechen pflichtschuldigst aufnimmt, aber einem lächelnd zu verstehen gibt, dass die Täter allenfalls per Zufall erwischt werden; dass der stinknormale Matheunterricht wochenlang ausfällt – und dass außerhalb der Verwaltung keine Jobs entstehen.
Dafür darf man entlang der Bankhäuser und Botschaften auf dem Boulevard Unter den Linden flanieren und auf den Nebenstraßen noch länger im Stau stehen, fürs Parken mehr bezahlen und hoffen, dass ein „Coach“ der Lehrerin klarmacht, dass Schreien auch im Probejahr keine effektive Unterrichtsmethode ist.
Macht nur weiter so, denkt sich vermutlich Angela Merkel – dann kann mir 2017 nichts passieren.