Ein lesenswerter Text über das Beleidigtsein:
Alles:Das unheimliche Gespür für Beleidigtsein: Generation Leberwurst
Wenn es eine neue und dominante politische Triebkraft der 2010er Jahre gibt, dann ist es die Beleidigtheit. Das Jahrzehnt begann mit der Sarrazin-Debatte. Ob es der damalige Bundesbanker bewusst tat oder nicht, er stieß mehrere Menschen vor den Kopf. Sarrazins trockener Kommentar, wonach Tatsachen keine Beleidigung seien, machte es noch heftiger. Viele fühlten sich von Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ beleidigt, wobei ich den Verdacht nicht loswerde, dass es mehr Trittbrettfahrer der Beleidigtheit gab als wirklich Getroffene. Statistiker warfen ihm Missbrauch statistischer Methoden vor, SPD-Politiker sahen sich ebenso diskreditiert wie viele Muslime und Hartz-IV-Empfänger.
Die Kehrseite der Medaille des Wutbürgers, wie dieser in Stuttgart gegen den neuen Bahnhof demonstrierte, war der Schmollbürger, der nach Gelegenheiten suchte, sich auf den Schlips getreten zu fühlen. In der ökonomischen Spieltheorie gibt es das Verhalten des so genannten Defektierers, welcher sich bewusst unkooperativ verhält, um sich Vorteile zu verschaffen. Als Prototyp fällt mir der damalige griechische Finanzminister Varoufakis ein, der vor gut einem Jahr Europa auf den Kopf stellte, bevor die Flüchtlingskrise begann.
Das Verhalten eines Beleidigten oder auch nur scheinbar Beleidigten ähnelt dem eines Defektierers. Beide verderben das Spiel, der Beleidigte aber mit dem Kniff, den Anderen vorzuwerfen, ihm Unrecht angetan zu haben. Der Defektierer tut das eher in dreister Weise, der Beleidigte ist subtil. Im Grunde ist es wie ein Derivat, eine Option, diese Haltung, beleidigt zu sein. Der Defektierer hingegen hält Aktien. Defektierer handeln direkt, Beleidigte über Bande indirekt.
[Links nur für registrierte Nutzer]